Während ihres Aufenthalts als Artist in Residence im Museum Kunst der Westküste, Alkersum/ Föhr, beschäftigte sich die in Rom und Berlin lebende Künstlerin Susanne Kessler intensiv mit Föhr, das heißt mit den geografischen, historischen und kulturellen Besonderheiten der Insel. Sie tauchte in die Lebensgeschichten vieler Föhrer ein — etwa von Männern, die als Walfänger oder Seefahrer auf den Weltmeeren unterwegs waren, oder von Familien, die nach Amerika ausgewandert sind, darunter viele, die weiterhin enge Verbindungen zu ihrer alten Heimat pflegen. Besonders kam sie den Biografien vieler Föhrer nahe, die die Insel für immer oder für eine bestimmte Zeit verlassen haben, um sich neuen beruflichen und persönlichen Herausforderungen zu stellen. Kraft, Mut und Abenteuerlust gehörten und gehören zu jedem einzelnen dieser Aufbrüche.

Im Föhr-Lexikon stieß Kessler dann neben dem Eintrag über den in dem kleinen friesischen Dorf Dunsum auf der Insel geborenen Kapitän Christian Simon Jürgens (1875-1959) auf eine un­scheinbare Zeichnung mit einem wirren Linienverlauf.‘ Als Künstlerin war ihr Interesse sofort ge­weckt — rein ästhetisch, visuell. Sie entdeckte zugleich, dass sich hinter dieser Linie eine schier un­fassbare Geschichte verbirgt: die von Stürmen und Orkanen erzwungene Irrfahrt des stählernen Segelvollschiffs „Susanna“ bei seiner bis heute einzigartigen Umsegelung von Kap Hoorn. Unter Kapitän Jürgens Führung geriet das Schiff im südlichen Winter 1905 auf seinem Weg von Port Tal­bot/England zum Salpeterhafen lquique/Chile in lang anhaltende Stürme um die Südspitze Ame­rikas. 99 Tage lang kämpfte sich die tapfere Mannschaft südlich des 50. Breitengrades um Kap Hoorn. Wie durch ein Wunder und nach unglaublichem Kampf erreichte die „Susanna“ nach 189 Tagen die chilenische Küste. Die gesamte Besatzung hatte, wenn auch unter größten Strapa­zen und dank des überragenden Einsatzes ihres Kapitäns, überlebt.2 Dieser Törn — nachzuvollzie­hen anhand seines wirren Linienverlaufs — gilt bis heute als die härteste, brutalste und längste Kap­Hoorn-Umsegelung der internationalen Seefahrtsgeschichte. Doch mit Ankunft in Nordchile war die Fahrt noch nicht beendet — erst nach zweieinhalb Jahre währender Abwesenheit kehrten die „Susanna“ schließlich nach Hamburg und Kapitän Jürgens nach Föhr zu seiner Frau und seinem erst vier Jahre alten Sohn zurück.

Die einzige erhalten gebliebene materielle und authentische Quelle, auf deren Grundlage der Verlauf der Irrfahrt heute rekonstruiert werden kann, bildet das meteorologische Tagebuch3 der „Susanna“. Alle vier Stunden wurden darin die hydrografischen und meteorologischen Verhältnis­se während des Kurses des Schiffes eingetragen. Allein ein Nachzeichnen des wirren Linienver­laufs lässt das orientierungslose Taumeln und Trudeln, das permanente Vorwärts-, Seitwärts- und Zurückschlingern des Schiffes bewusst werden, zumal der Betrachter gefordert ist, das Lineament geografisch von Ost nach West — also entgegen der gewohnten Leserichtung — zu erfassen: eine zusätzliche psychologische Herausforderung.

Die Linie und die Geschichte der Irrfahrt wurden zum Ausgangspunkt für Susanne Kesslers inten­sive zweijährige Auseinandersetzung. Die Künstlerin wollte dem Linienverlauf nachgehen, ihn ver­stehen, seine Flächenausbreitung ermessen und rastern, ihn mithin verinnerlichen.

Oft bildet eine Zeichnung den Ursprung einer künstlerischen Arbeit; sie steht zumeist der Idee, dem Beginn eines Projekts, am nächsten. Hier nun verbindet sich das erste „Festhalten“ einer Idee auf Papier mit einer schon vorgegebenen Linie, die als Bedeutungsträger vielfältigste Bezüge of­fenbart und in verschiedenen semantischen Feldern lesbar ist:

Kapitän Jürgens, einer alteingesessenen Seefahrerfamilie entstammend, steht für die Entschlos­senheit vieler Föhrer, den Blick in die Welt zu richten. Er und seine Mannschaft erlitten große Ent­behrungen, waren von Skorbut, Typhus und schweren Verletzungen betroffen, sie hatten Todes­angst und mussten den Verlust der Kameraden befürchten. Ihre Gedanken gingen oft zu den Da­heimgebliebenen, zur Familie und zu den Freunden. Im Winter 1907/08 — nach zweieinhalbjäh­riger Abwesenheit — nach Föhr zurückgekehrt, beendete der damals erst 32-jährige Jürgens seine Laufbahn und bewirtschaftete fortan eine kleine Hofstelle in Oldsum. Die Erkenntnis, welche Be­deutung Familie und landschaftliche Gebundenheit — kurz Heimat — haben, verbindet sich bei­spielhaft mit dieser Geschichte.

Das historische Geschehen gleicht einer allgemeinen und Zeiten übergreifenden Lebensmeta­pher. Es erinnert zugleich an die Irrfahrt des Odysseus, an die Höhen und vielen Tiefen seines he­rausfordernden, kräftezehrenden Treibens auf dem Meer — ein Epos, das seit Jahrhunderten Schriftsteller, bildende und darstellende Künstlerinnen und Künstler inspiriert hat. Ganze 20 Jahre lang kämpften Odysseus und seine Gefährten darum, wieder heimzukehren. Das Aufbrechen ins Unbestimmte mit nicht abzuschätzenden Gefahren, die nicht nachlassende Ungewissheit, wo und wann die Odyssee enden wird, die Sorge um die daheimgebliebenen Familien sowie umgekehrt die Angst der Familien um das Schicksal der Männer und Väter — dies sind leidvolle Erfahrungen, die auch heute noch aktuell sind. So wird die Jetztzeit von weltweit noch nie dagewesenen Flücht­lingsbewegungen bestimmt, von Menschen, die wegen Krieg und Hunger ihre Heimat verlassen müssen und unendliche Strapazen auf sich nehmen, ohne genau zu wissen, ob sie je ihr Ziel errei­chen werden.

Im erweiterten Sinn stellt die von vielen Irrwegen bestimmte Reise auch eine Metapher für ein modernes Künstlerleben dar, für ein permanentes Ausloten und Hinterfragen des eigenen Seins und Tuns, der kreativen Arbeit, und ein Los existenzieller Gefährdungen.

Mit Modellen, Zeichnungen, Objekten und Filmen, die oftmals parallel entwickelt wurden und im Folgenden vorgestellt werden, lässt Susanne Kessler den Betrachter an ihren Werkprozessen teilhaben und gewährt ihm Einblicke in die Genese ihrer künstlerischen Arbeit, die zum Gesamten­semble, der Bodeninstallation Odisseaund den begleitenden Wandinstallationen Föhr und Süd­amerika, hinführt. Auch wenn einzelne Objekte vorbereitenden Charakter zu haben scheinen, ist jedes Werk als autonom und eigenständig zu bewerten.

Als Resultat Kesslers erster Überlegungen entstand ein Trickfilm über die „reisende“ Linie: Mit ei­nem schwarzen Kabel „zeichnete“ Kessler auf einem Holzbrett die Tagesfahrten der „Susanna“ nach, fotografierte den jeweiligen Kurs und montierte diese Einzelaufnahmen zu einem Film (Kat. 1).

Die sich über eine Fläche von 2,80 x 5,80 Meter erstreckende große Wandinstallation Irrlinie(Kat. 2) hat ihren Platz an der Stirnwand der Galerie des Museums gefunden. Die etwa drei Zenti­meter starke schwarze Linie, gebildet von einem mit verschiedenen Materialien umwickelten Draht, hebt sich von der Wand ab. Die Künstlerin entwickelte über die Nachzeichnung der histori­schen Route eine freie plastische Komposition, ein Zeichensystem. Die Linien materialisieren die künstlerische Idee, sind gleichsam das Substrat ihrer Überlegungen. „Wenn die Linie eine Ge­schichte hat und somit keine willkürliche ist, wird man das spüren“ — dieses Statement der Künstle­rin trifft sehr präzise, was der Betrachter empfindet: Sie, diese Linie, erzeugt eine beeindruckende Flächenspannung und vermittelt das Gefühl, als sei sie „natürlich“ aus der Wand erwachsen.

In Segmente einer Irrlinie(Kat. 3) wird die Ursprungslinie in plastische Objekte überführt — auch der angestrebte Installationsaufbau im Meer würde sich in solchen Teilabschnitten vollziehen. Die jeweils von einem individuell geschnittenen schwarzen Gitternetz unterlegten Segmente greifen in den Raum aus, spielen auf der Wand mit Licht und Schatten und gewinnen in ihrer auf der „Urli­nie“ basierenden Abstrahierung volle Autonomie. Parallel oder vermutlich vorausgehend entstand die Abfolge von 17 freigelegten Linienelementen (Kat. 4), die erneut auf einen geplanten Installa­tionsaufbau Bezug nehmen. Die Einzelzeichnungen sind autonom und fügen sich zugleich zu ei­nem fesselnden Gesamtbild. Ihre „Sezierung“ und die jede Zeichnung umschließenden Bildrah­men sind als bewusst kalkulierte Brüche zu verstehen.

Es ist aber nicht allein der flächengebundene Linienverlauf: Kessler hat sich in verschiedenen, dem Föhrer Projekt vorausgegangenen Arbeitsprozessen immer wieder mit dem Amphibischen, mit Zwischenräumen, mit sich Entwickelndem, Veränderndem und dem Nichtstabilen, Nichtstati­schen auseinandergesetzt.4 So entstand folgerichtig der Plan, die Irrlinie zu einer monumentalen, beweglichen, auf dem Meer schwimmenden Skulptur zu entwickeln. Den Gezeiten ausgesetzt, würde die von Kessler in einer Größe von ca. 40 x 60 Metern geplante Installation bei einsetzen­der Flut schwimmen, auf der Wasseroberfläche in Wind und Wellen schaukeln, doch dann immer wieder unweigerlich und sisyphosgleich bei Ebbe stranden.

In einem ersten Modell (Kat. 5), das zur Meeresinstallation in technischer Hinsicht hinführen könnte, sind unterschiedlich lange Bambusstöcke durch Verbindungen in ein System gebracht, das sich zunächst nicht von selbst erschließt. Der Bambuskonstruktion liegt der Linienverlauf zugrunde: Sie wird für diesen die „Basis“ bilden, um eine maßstabgerechte Ausdehnung zu ermöglichen. Das Modell eröffnet dabei einen weiteren semantischen Bezugspunkt:

Das gefertigte Bambuskonstruktionsmodell erinnert an die sogenannten Stabkarten (stick charts, Abb. 2), die von nur wenigen eingeweihten Seeleuten der Marshallinseln in Mikronesien als traditi­onelle Navigationshilfe benutzt wurden. Sie dienten vor der Fahrt als Gedächtnisstütze und Orien­tierungshilfe über die zwischen den Atollen anzutreffenden Wellenformationen sowie die zu erwar­tenden Wind- und Wasserströmungen. Mit dem Verweis des „Föhrer“ Bambusunterbaus auf solche Stabkarten wird ein wichtiger und zentraler Aspekt berührt: der Klimawandel. Durch den steigen­den Meeresspiegel sind die Inseln Mikronesiens vom Untergang bedroht. Dieser Gesichtspunkt ver­weist wiederum auf das meteorologische Tagebuch der „Susanna“, das aktuell vom Maritimen Da­tenzentrum des Deutschen Wetterdiensts in Hamburg neu ausgewertet wird und eine bedeutende Quelle für die Erforschung des Klimawandels darstellt.5 Der Vergleich der 1905 erfassten Klimada­ten mit aktuellen meteorologischen Bedingungen offenbart Veränderungen des Weltklimas.

Die Kessler’sche Bambuskonstruktion dient im Weiteren als Unterbau für einen Schlauch, der den Linienverlauf nachahmt. Er bleibt zwar mit der Fläche verbunden, doch agiert er eher assozi­ativ und gewinnt somit an Autonomie.

In Modell III und IV (Kat. 7 und 8) greift Kessler das bereits in den 17 Einzelzeichnungen (Kat. 4) vorhandene geometrische Raster auf, das nun Grundlage für eine maßstabsgetreue Annäherung an den Kurs der „Susanna“ liefert. In Modell III (Kat. 7) wird eine Hartfaserplatte, auf der ein Bo­gen Papier aufliegt, zum Träger eines Bindfadenrasters. Senkrecht eingeschlagene Nägel dienen als „Pfosten“, an welche die Bambuskonstruktion sowie Bindfäden, die die Irrlinienachahmen, ge­bunden sind. Mit den aufgegriffenen „Pfosten“ nimmt das Modell motivisch auf eine weitere Tradi-

tion Bezug: Es verweist auf die sogenannten Fischgärten auf Föhr. Noch bis vor einigen Jahrzehn­ten stellten die Insulaner im Frühjahr bei Ebbe sogenannte Fischzäune in der Nähe der Priele auf. Bei Flut schwammen die Fische über die Zäune hinweg, bei ablaufendem Wasser wurden sie in die Mitte der Zäune getrieben, die nun als Reusen fungierten; diese mussten sodann bei jeder Ebbe, egal ob bei Tag oder Nacht, Sturm oder Flaute, geleert werden. Im Herbst wurden die Fischzäune, künstlerisch gesehen temporäre Installationen im Watt, an der amphibischen Schnitt­stelle zwischen Land und Meer, wieder abgebaut.

lm Modell II mit dem Titel Ebbe und Flut (Kat. 10) dient der Deckel einer kleinen alten Zeichen­mappe als Bühne für eine Installation. Die Innenseite der senkrecht positionierten Mappenhälftewar zum Bildträger für eine braune Tuschzeichnung geworden, die Kessler während ihres ersten Föhraufenthalts geschaffen hatte. Trotz Abstraktion und formaler Reduzierung nimmt der Betrach­ter eine Landschaft wahr: Unter einem lichten Himmelsstreifen erstreckt sich das Watt bis zum fer­nen Horizont. Das ablaufende Wasser scheint Rillen im Boden hinterlassen zu haben. Die Leben­digkeit des amphibischen Raums ist trotz der fast monochromen Farbskala spürbar.

Auf der anderen liegenden Innenseite der Mappe hat Kessler getrockneten Schlamm aufge­bracht, auf dem sich auf einem Netz, das einem unregelmäßigen Nagelbett aufliegt, eine aus Pa­pier ausgeschnittene und bemalte Irrlinie erhebt. Diese wird somit neu verortet: Ihre Geschichte verbindet sich nun in direkter Weise mit dem norddeutschen Küstenraum und stellt die geografisch weit auseinanderliegenden Orte — Kap Hoorn und das nordfriesische Wattenmeer — in eine Bezie­hung zueinander. Dieser Aspekt weist auf die Rauminstallation Odisseavoraus.

Während ihres zweiten Aufenthalts als Artist in Residence auf Föhr realisierte Kessler einen viertä­gigen Probelauf für ein circa 4 x 7 Meter großes Teilstück (Kat. 11) der geplanten Meeresinstalla­tion (60 x 40 Meter). Zusammen mit Uwe Jensen, Museumstechniker des MKdW, brachte Kessler bei Ebbe drei Kastanienstämme mit einer Länge von circa 70 Zentimetern und einem Durchmesser von circa zehn Zentimetern etwa 100 Meter vom Saum der Hochflut entfernt in einem Abstand von fünf bis sieben Metern zueinander in den Wattboden ein. An langen Hanfkordeln waren die Stämme mit bis zu fünf Meter langen Bambusstangen und einer Korkschlauch-Schlaufe mit einer Länge von etwa sieben Metern verbunden. Bei Ebbe wurde die Konstruktion — gestrafft vom ablau­fenden Wasser — um vier Meter ins Meer hinausgezogen, bei Flut hob sie sich und konnte vom Strand aus, bei schlechteren Witterungsbedingungen oftmals nur schwach, wahrgenommen wer­den: als kleine Linie im großen, zu diesem Zeitpunkt bisweilen recht stürmischen Meer. Die Linie glich einem Fragezeichen oder Gedankenstrich. Kessler erlebte, wie ihre bei Ebbe auf dem Watt­boden aufliegende Konstruktion neugierig von Strandwanderern aufgesucht wurde. Manche dachten an ein gestrandetes Segelschiff, obwohl nichts Schiffsähnliches zu erkennen war, oder glaubten gar, dass etwas Unerklärliches im Meer geschehen sei. Manch ein Betrachter kam nicht umhin — zu stark sind Bilder im Gedächtnis gespeichert —, sich an die traurigen, gerade so aktuel­len Bilder übers Mittelmeer flüchtender Menschen erinnert zu fühlen, an Menschen, darunter viele Kinder, die sich dem Ungewissen und der Gefahr aussetzten und um ihr Überleben kämpfen. Oft­mals stranden von ihnen nur kleine Barkassen, Schlauchboote oder Rettungswesten. Kessler beant­wortete viele Fragen und nahm die Assoziationen der Betrachter auf. Für sie war es eine Art „Tau­fe“ ihrer Idee, ein Probelauf in jeder Hinsicht.

Parallel dazu entwickelte sie die Idee zu einem Animationsfilm (Kat. 12), der den technischen Aufbau ebenso in den Blick nimmt: Das allen Widrigkeiten des Wetters ausgesetzte Meer, das durch Ebbe und Flut stetiger Veränderung unterworfen ist mal aufgewühlt, mal ruhig — dient als Projektionsfläche für die Visualisierung der 99 Tage dauernden Irrfahrt der „Susanna“. Im Gezei­tenwechsel wird das abstrakte Liniengefüge gleich einer beweglichen Skulptur zu stets neuem Le­ben erweckt. Bei Ebbe muss es immer wieder erneut „stranden“. Im Film materialisiert sich für Se­kunden die Vision der Meeresinstallation.

Susanne Kessler lebt seit vielen Jahren in Rom, ihr nahe am Mittelmeer liegendes Zuhause und das antike Erbe nehmen häufig Einfluss auf ihre Arbeiten. Klassische Themen greift sie auf und versetzt diese oftmals auf ungewöhnliche Weise in den Norden. So translozierte sie 2006 den Grundriss­plan des Tempels der Athene aus Paestum, um ihn — entmaterialisiert — als Flying Temple in Form einer maßstabsgetreuen Flächeninstallation in der Landschaft der nordfriesischen Westküste am Meer bei Büsum neu erstehen zu lassen.6 Ihre bereits 1994 ausgerichtete Einzelausstellung im Von der Heydt-Museum in Wuppertal trug den Titel Man müsste wieder Tempel bauen/ Neben sol­chen Themen ging stets auch das eher Alltägliche mit der Künstlerin auf Reisen in den Norden: Im Rahmen des Ausstellungsprojekts Fredsskulptur — Peacesculpture. 50 Jahre nach der Befreiung Dä­nemarks vom deutschen Nationalsozialismus, 1995 initiiert vom Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen, schuf sie die Installation Bilancia (Abb. 3). Auf einem halb im Sand versunkenen Bunker montierte Kessler eine typische italienische Fischerkonstruktion, einen Eisenausleger, an den früher Senk- und Hebenetze gehängt wurden. An die Konstruktion band sie ein überdimensio­niertes Netz von Zeichnungen, die formal Strukturen des menschlichen Innenohrs aufgriffen. Die Ohrlabyrinthe symbolisierten für Kessler Menschwerdung, Fragilität und Verständigung.8 Ver­gänglichkeit stellt ein weiteres Kontinuum ihrer künstlerischen Arbeit dar. Die ephemeren Installati­onen sind immer nur auf einen bestimmten Zeitraum hin angelegt, werden dann abgebaut oder der Natur preisgegeben — auch Bilancianahm sich der Wind.

Deshalb besitzt Kesslers Lebensbibliothek (Kat. 13) umso größere Bedeutung. Seit Jahrzehnten hält sie ihre künstlerischen Prozesse in Büchern fest, die — der Wertigkeit entsprechend in hellem Leder eingebunden — ihre Ideen, Überlegungen und die unmittelbaren thematischen Auseinander­setzungen bergen und zugleich schützen. Die besonderen Lederhüllen und -taschen sind äthiopi­schen Ursprungs — christliche Kopten verwahren darin ihre Bibeln. Auf mehr als 30 Bücher in un­terschiedlichen Formaten ist Kesslers Lebensbibliothek mittlerweile angewachsen. Jedes Projekt wird in einem Band gespiegelt — manch ein Gedanke findet erst Jahre später künstlerischen Aus­druck und kann sich zu einer monumentalen Zeichenskulpturen entwickeln.

Während ihres dritten Föhraufenthalts trug Kessler handschriftlich mit Tusche und Feder von ihr ausgewählte Textpassagen aus Homers Odyssee in ein altes, unbeschriebenes Kontorbuch ein (Kat. 14). Die Zitate korrespondieren mit Zeichnungen und Collagen, in denen die Irrlinie der „Susanna“-Fahrt immer wieder abstrahiert aufgegriffen, verdichtet und gleich einer musikalischen Fuge komponiert wird. Kesslers prozesshafte Arbeit, die sonst im Verborgenen bleibt, wird hier erstmals offenbart. Ein Monitor ermöglicht, Seite für Seite einzusehen. So kann der Betrachter die ergreifenden Textpassagen lesen und zugleich die Vielgestaltigkeit der Collagen wahrnehmen. Die auf 68 Doppelseiten entworfenen Bild-Text-Collagen verweisen auf die überzeitliche Gültigkeit menschlicher Gefährdungen. Die Texte aus Homers Odyssee beschreiben dabei Empfindungen, die jeder, der je seine Heimat verlassen und ins Unbekannte aufbrechen musste, gespürt haben wird: die Ungewissheit, wann die Stürme sich legen, an welche Küsten das „Lebens“-Schiff getrie­ben wird, und die Sehnsucht nach Heimkehr, nach einem Ort der Ruhe. Während das meteorolo­gische Tagebuch der „Susanna“ — in nahezu identischem Format wie das Kontorbuch — die histori­schen Messdaten der Kap-Hoorn-Umrundung von 1905 sachlich dokumentiert, findet Kessler in ihrem „Logbuch“ zu einem individuellen, sehr persönlichen künstlerischen Ausdruck.

Einen zunächst unabhängig scheinenden Werkkomplex, der jedoch aufs Engste inhaltlich mit Ge­schichten wie diesen, sei es diejenige von Kapitän Jürgens, sei es die von Homers Odysseus, in Be­rührung steht, ist die sogenannte mappamundi. Kontinente, über die Weltmeere miteinander ver­bunden, stehen für große, universelle Themen; die kartografierten Räume gleichen einem abstra­hierten Zeichensystem. Viele Länder sind Sehnsuchtsorte für Menschen, deren eigene Lebenswelt immer unwirtlicher oder gefährlicher wird und die den Wunsch hegen, in ein neues Leben anders­wo aufzubrechen. Bewusst greift Kessler bei ihren auf Baumwollgaze gestickten Kontinenten, der 14-teiligen Arbeit mappamundi (Kat. 15), auf eine weiblich konnotierte Nähtechnik zurück. Sie er­innert damit an die Frauen, die in der Heimat zurückgeblieben sind und oft überJahre im Ungewis­sen über das Schicksal ihrer Ehemänner bleiben, sei es die Frau von Kapitän Jürgens, sei es in Ho­mers Epos Penelope, die immer wieder des Nachts ihre während des Tages gefertigte Handarbeit auftrennt, um sich ihrem Schicksal, mit einem der Freier verheiratet zu werden, zu entziehen.

Während der Handarbeit fließen die Gedanken: Wie die Männer die Weltmeere „vermessen“, so verfolgen die Frauen gedanklich ihre Wege. Weite und Ferne versus Nähe und Heimat werden nicht als Gegensätze verstanden, sondern stehen in einem engen Verhältnis zueinander: Der Fort­gereiste sehnt sich nach zu Hause, die oder der in der Heimat Gebliebene „zeichnet“ imaginär den Lebensweg des Abwesenden nach. Die Hängung der Installation erinnert an gesetzte Segel.

Die Gestickte Track-Karte der Odyssee der „Susanna“ um Kap Hoorn (Kat. 16) kündigt die Rauminstallation Odisseaan. Bambusstäbe dienen als Leisten für die Baumwollgaze mit dem ge­nähten Bild der rauen Küste Patagoniens samt der um Kap Hoorn irrenden Linie.

In dem über fünf Meter hohen Ausstellungssaal mit einer Grundfläche von circa 9 x 6,5 Me­tern, der zunächst von einer Empore aus eingesehen werden kann und zu dem eine Treppe hinab­führt, treten die Bodeninstallation Odissea(Kat. 17) und die Wandinstallationen Südamerika (Kat. 18) sowie Föhr (Kat. 19) in einen Beziehungsdialog.

Die von kräftigem Schwarz bestimmte Wandinstallation Südamerika wird zum Ausgangspunkt des Raumensembles. Der Kontinent, das Ziel der Reise von Kapitän Jürgens, bildete immer schon aufgrund seiner bizarren Küstenlinie, den verschiedenen Klimazonen und den hohen Gebirgen ei­nen schwer zu erschließenden geografischen Raum. Er steht aus der europäischen Sicht früherer Jahrhunderte per se für das Fremde und Unbekannte. Die gesamte Küste ist vielgestaltig geformt, eher abweisend als einladend. Die Flüsse, in der Installation in abstrahierender Weise durch blaue Kordeln angedeutet, helfen nur bedingt, dem unwirtlichen Naturraum näherzukommen, der durch starke Überlagerungen von Netzen und verdichtetem recycelten Materialien bestimmt wird. In der Fernsicht entfaltet er seine Kraft, in der Nahsicht verliert sich der Betrachterblick in einem un­entwirrbaren Labyrinth. Palimpsestartig lagern die Schichten übereinander.

Das materialisierte Liniengebilde der Irrfahrt der „Susanna“ um Kap Hoorn, die Arbeit Odissea(Kat. 17), ist nun zu einer Installation erwachsen. Auf einen 4 x 3 Meter großen Rahmen wurden verschieden große geometrische Raster mit Kordeln gespannt. Er trägt außerdem ein schwarzes Volierennetz, auf dem maßstabsgerecht ein 65 Meter langer Plastikschlauch, Drähte und Kordeln die Irrlinie nun räumlich nachzeichnen. In der dritten Dimension entsteht der Eindruck, die „Zeich­nung“ würde sich aufbäumen und zu einer Vielzahl von Linien werden, die wie Wellen umeinan­der peitschen. Die Linien scheinen umeinander zu wirbeln, ihre eigenen Grenzen zu überwinden und einen eigenen Ort im Raum auszubilden, ja sie nehmen diesen gleichsam in Besitz. Der Be­trachter fühlt sich aufgerufen, dem Linienverlauf zu folgen, doch ist dies extrem schwierig, denn immer wieder „verheddert“ sich der Blick, stoppt und sucht weiter. Man vollzieht mit eigenen Au­gen und erlebt zugleich, wie sich die Gedanken wie in einem Labyrinth verfangen. So kann nach­empfunden werden, welch schlingernde Odyssee die „Susanna“ durchlaufen hat. Richtung und Ziel gehen verloren.

Die farblich von grünen Akzenten bestimmte Arbeit Föhr (Kat. 19) ist stärker verdichtet als Odis­sea. Die Wandinstallation gleicht einem geschützten Raum, der sich öffnet und partiell ausgreift. Zugleich wenden sich die übereinanderliegenden Materialien nach innen — wie eine Metapher, die für Heimat und Geborgenheit steht. Damit erschafft Kessler einen neuen ästhetischen Raum, ein Skulpturenensemble, das einerseits auf weit auseinanderliegende Orte verweist, diese aber andererseits in einem Raumkörper verbindet. Dennoch ist die Installation Föhr aus Kesslers Sicht nicht als vollendet oder perfekt zu verstehen: Wie die Insel ist sie in einem Prozess, sie wird sich verändern, weiterentwickeln und neue Formen annehmen. Nach zweieinhalbjähriger Abwesen­heit kehrte Kapitän Jürgens im Winter 1907/08 nach Föhr, auf die grüne Insel, zurück und been­dete seine Seefahrer-Laufbahn. Die Erkenntnis, welche Bedeutung Familie und landschaftliche Ge­bundenheit — kurz Heimat — haben, steht beispielhaft für diese Geschichte. Die Installation Föhr weist daneben auf einen weiteren wichtigen Aspekt in Kesslers künstlerischer Arbeit hin: auf den des zyklischen Werdens und Vergehens. So formt sich aus bestehenden Materialien immer wieder Neues. Schon Bestehendes wird transformiert und in einen neuen Kontext gebracht. „Das Teilhaf­te, Unvollendete, Sich-in-der-Veränderung-Befindende wird ausgestellt. Untergründe und Auf­schichtungen wiederholen und variieren sich, sind aber häufig in den Wiederholungen gar nicht erkennbar, weil der Kontext den Geist veränderte“, so Susanne Kessler.

 

RESÜMEE

Die Vielzahl und die Vielgestaltigkeit der innerhalb des Gesamtprojekts von Susanne Kessler ent­standenen Objekte, Modelle, Filme, Zeichnungen und Installationen sind extrem beeindruckend. Darüber hinaus ist es faszinierend zu sehen, wie alle Werke, obwohl jedes für sich Autonomie be­anspruchen kann, aufeinander Bezug nehmen und von der Linie als Ursprung alles Schöpferi­schen ausgehen und über sie miteinander verwoben sind. Über ein gleichsam organisches Wach­sen entwickelte sich die Linie kontinuierlich weiter — mal sehr abstrahierend, mal durch Verknüp­fungen und Verdichtung. Ein größeres kompositorisches Durchspielen — gleich einer Fuge — ist kaum vorstellbar.

 

Text zum Katalog „Susanne Kessler – Odissea” von Prof. Dr. Ulrike Wolff-Thomsen, Direktorin des Museum Kunst der Westküste, Alkersum/Föhr