Auch die Malerei hat nur die Grenzen, die sie sich selbst setzt. Sie hat es allemal mit Farben zu tun, die flüssig sind und verstreichbar, aber jede Substanz, die diese Bedingungen, die die Wahl einengen können aufs speziell für solche Nutzung Produzierte. Auf der anderen Seite hat sie es mit Flächen zu tun, auf die die Farben aufzutragen sind, aber auch hier gibt es, wann man sie nicht will, keine Zwänge; jedes Material kann Bildträger und Malgrund sein, und dieser kann klar begrenzt sein oder fragmentiert, geschlossen oder offen, gespannt oder lose, sich schließend oder vielschichtig, eben oder in Verwerfung und Knautschung zum Relief sich hebend, massiv oder membranhaft. Oder vieles zugleich, und ausgreifend ins Räumliche, und frei sich erhebende Körper übermächtigend. Susanne Kessler handhabt das Medium der Malerei mit großer persönlicher Freiheit. Die sämigen Farben bereichern sich bei ihr um die dünnflüssigere Tusche und um dem zäheren Asphalt. Sie nutzt Stoff und Papier gleichermaßen, kombiniert sie, schneidet aus, klebt ein, und die Überlagerung ihrer Zeichen lässt die Botschaft ihrer Bilder vielschichtig werden, mehrstimmig, vielleicht gar murmelnd oder raunend, zumal wenn sie, wie sie es manchmal tut, das Gemalte und Gezeichnete mit Gaze überdeckt. Aber es bleibt ohnehin nicht nur beim Bild, das in der Fläche und an der Wand sein Genüge fände, sondern auf Gerüsten und Gestängen, die sie baut und behängt, bespannt, umwickelt, lässt sie manchmal ausgeleuchtet, manchmal sich bewegend, ihre Malerei sich des Raums bemächtigen und den, der sich darauf einlässt, in sich, ihr Leben, ihre Erlernbarkeit einbeziehen.
Flügel, Segel, Karussells, transluzide Schwebekörper; die Höhle, die Pyramide, das Geflecht, das Labyrinth. Manche der Bilder tun sich ausschnittshaft mehrschichtig aus der ebenen Fläche hervor, andere dehnen sich im Raum in allseitigem Wachstum.
Dabei ist eigentlich nichts spielerisch im Sinne der Verspieltheit des Spielenden. Und schon gar nicht gibt es etwas, das nicht in kritischer Erwägung verantwortet wäre. Die Dinge sind vital, aber nicht fröhlich, ihre Vitalität ist die eines kraftvolles Ernstes. In der Fülle der Hervorbringungen nichts Überflüssiges. Die Fülle muss sein, in dichter Streuung erbringt sie oft genug Gruppen, Zyklen, Bücher. Eigentlich wären die Arbeiten von Susanne Kessler als einzelne kaum vorzustellen, so sehr stehen sie in ihrem allgemeinen Wachstumszusammenhang. Aber auch das Einzelbild offenbart dem sich darin Vertiefenden Vielheit. Alles erwächst aus einem freien, unregelmentierten Duktus, die Lineaturen und Flächenuntergeben sich keinem planhaften Zwang. Sie um-und überspielen einander eher als dass sie sich ergänzten. Es geschieht immer ein Mehreres zugleich. Züge brechen ab wie mitten im Wort, verstummen in Verdrecktheit, der fragmentierende Schnitt folgt nicht der malerisch gefundenen Form, sondern durchtrennt sie und im Übereinanderkleben geraten derart die gemalten Lineaturen in einen furchtbaren Widerspruch zueinander, in den dann oft genug körnig gezeichnete Striche in loser Überkreuzung verbindend einstimmen. Geheimnisse, die sich nicht lösen, obwohl ihre Sprache deutlich ist. Dem Schauenden mag sie denken helfen, er liest sich selbst.
Botschaft, aber verschlüsselt. Dass Susanne Kesslers Bilder diesen Charakter haben, mag wesentlich daher rühren, dass sie es liebt, den Bildgrund leer und weiß zu lassen. Ungedämpft also durch die Einbindung in eine sonore Klangwelt, erscheinen die Eintragungen zeichenhaft, einen mehr schreibenden Gestus entstammend, spontane Mitteilungen, von denen die folgende die vorhergegangene nicht außer Kraft setzt, sondern erweitert und vertieft. Auch als abgeschlossener scheint der Vorgang prozenthaft zu bleiben, weil man nicht einfach nur schauen kann, sondern entschlüsseln möchte. Aber diese Bilder erklären nichts, sie erklären nur sich selbst, und so ist es der Betrachter selbst, der Klarheit in sich finden mag durchs Anschauen. Sind Rätsel wirklich strafbar? Die auf eine Lösung hin angelegten sind hoch künstliche nur. Kunst bedarf der Künstlichkeit nicht. Sie ist ihrem Wesen nach enigmatisch. Und es ist ihre Vieldeutigkeit, die ihr die Tiefe gibt und die unvergängliche Frische. Und die Vieldeutigkeit denn auch ist der Grund, aus dem Kunst nie an ein Ende kommt, nie überflüssig wird, nicht jemals erschöpfend definieren kann, sondern immer wieder neu angefangen werden muss. Ist ein gemalter Apfel, ist er nur ein Apfel, und was haben die Äpfel von Cranach und Cézanne gemeinsam? Bilder sind allgemein Weltbilder. Die Welt will sich täglich neu erkennen. Hält sie uns den Spiegel vor? Sind nicht vielmehr wir ihr Spiegel?
Susanne Kessler gibt ihr Bild von der Welt, ihr Nachdenken über das Geheimnis des Seins gewinnt in der Spur ihrer Hände Form. Sie tut es so notwendig, wie Kunst getan werden muss. Und sie tut es so für uns wie für sich. Sie bezeugt und lässt uns als Zeugen ihres Zeugnisse zu. Und es ist recht, dass wir sie dafür ehren.
Laudatio für Susanne Kessler im Mönchehaus Museum Goslar, 15.10.1995 / Kaiserringstipendium