Konstruktionen nennt Susanne Kessler ihre großen, raumbezogenen Werke, die die Quint­essenz ihrer malerischen, zeichnerischen und plastisch gestaltenden Arbeit darstellen. Mit ihren ersten kinetischen Konstruktionen, verschiedenen Karussells, gelang Susanne Kessler ab 1986 der entscheidende Schritt von an die Fläche gebundenen, malerischen oder zeichnerischen Bildwerken hin zu raumbildenden und raumdurchdringenden Installationen. Gerade das »Formenkarussell« (Abb. 4), das im Gegensatz zu vielen der späteren Konstruk­tionen ausschließlich zur Aufstellung im Innenraum bestimmt ist, vereint in sich vielfältige formale wie inhaltliche Bezüge. Nesselstücke, die wie von Geisterhand dirigiert im Raum zu schweben und zu tanzen scheinen, dienen als Bildträger. Auf ihnen wird mit malerischen Mitteln das Grundprinzip des Karussells, die Kreisbewegung, aufgegriffen, wobei die Pri­märfarben Blau und Gelb vorherrschen und durch dunkle Lineamente gesteigert werden. Durch menschliches Handeln kann zugleich eine reale Kreisbewegung ausgelöst werden, indem das Eisengerüst, an dem die Nesselstücke montiert sind, in Rotation versetzt wird. Alles ist in Bewegung, alles ist im Fließen – diese Grunderfahrung, dass das Leben ständigen Veränderungen und Entwicklungen unterworfen ist, prägt viele der Arbeiten von Susanne Kessler. Dabei ist die sich im ständig gleichen Radius vollziehende Kreisbewegung, die in ihrer kontinuierlichen Wiederholbarkeit Sinnbild für Unendlichkeit ist, im »Formenkarussell« nur eine scheinbar monotone. Mannigfaltige Einblicke und Durchblicke, variierende Stand­punkte und nicht zuletzt das Durchschreiten und das physische Erleben des »Formen­karussells« lassen diese Konstruktion in ihrer Vielfalt erfahrbar werden. Auch die zwischen 1992 und 1993 entstandene Konstruktion »Labyrinth« (Abb. 6), beste­hend aus Holzpfählen, Nessel und Gaze, greift existentielle Grundgedanken auf. Seit der Antike, dem Mythos des Minotaurus, entscheidet der Weg durch das irreführende Labyrinth über Leben und Tod, und so gilt der Labyrinthgedanke als Reflexion über den Lebensweg des Menschen, der diesen immer von Neuem vor die Wahl nach der richtigen oder falschen Entscheidung stellt. In unzähligen Zeichnungen bereiten sich die großen Konstruktionen von Susanne Kessler vor, formieren sich ihre Ideen und Gedanken auf dem Papier. Dabei sieht sie die Zeichnung jedoch nicht als Skizze oder Vorstudie, sondern als eigenständiges Medium, da, wie sie sagt, »… ich sie nicht brauche, um meine räumlichen Vorstellungen zu skizzieren. Die Konstruktionen wachsen bei mir in der Zeit, ohne vorher festgelegt zu sein. Sie [die Zeichnungen] haben allein die Aufgabe, den geistigen Rahmen der Arbeit zu erhellen.«1 Die Zeichnungen werden zum wesentlichen Bestandteil der Konstruktionen, werden wie im »Labyrinth« bestimmendes Element: dort spannen sie sich wie Segel zwischen den Holz­stangen, bekrönen als Fahnen die eine oder andere Pfahlspitze oder hängen von Stab zu Stab. Kräftige, kalligraphisch anmutende Pinselzeichnungen stehen neben flächenfüllenden Zeichnungen auf großen Nesselfeldem, während in anderen Bereichen die dunkle, wesent­lich filigranere Linienführung durch das Weglassen, das Ausschneiden der von der Linie um­schlossenen Partien eigenwillig verfremdet wird. An anderer Stelle wiederum wird das Dargestellte durch Gaze verunklärt. Verschleierung und Bewegung, wie beim »Formen­karussell«, sind Motive, die die Neugierde des Betrachters wecken und, wie Susanne Kessler hofft, ihn »anlocken«2, um ihre Arbeiten zu erforschen.Wie alle ihre Konstruktionen ist das »Labyrinth« eine temporäre und variable Arbeit, die zu­gleich von ihrem Aufstellungsort lebt. »Das Labyrinth soll den Raum, in dem es ausgestellt ist, ausfüllen und muss deshalb erweiterbar, reduzierbar und variierbar bleiben.«3 Wenn Susanne Kessler in diesem Zusammenhang von Raum spricht, meint sie einen Ort, der mit dem Wesen der einzelnen Arbeit am direktesten zu korrespondieren vermag. Für das »Laby­rinth« würde sie sich einen Ort wünschen, der keine offensichtlichen zivilisatorischen Spuren aufweist4 und an dem Naturgewalten, wie Wind, Luft, Licht und Schatten, auf das Kunstwerk ungefiltert einwirken können. So dokumentiert sie in Fotografien die »wahren Orte« für ihre Konstruktionen, um auch in einem musealen Umfeld die Idee der idealen Aufstellung zu vermitteln. Einen Steinbruch sieht sie zum Beispiel für das »Labyrinth« als geeigneten Ort (Abb. 6), der zwar durch menschliche Einwirkung geformt wurde, sich jedoch durch das Ausgesetzt-Sein metamorphotischer Naturkräfte kaum von Naturlandschaften, wie Fels­schluchten oder Felsabhängen, unterscheidet.5Das Element Wasser ist für zwei der jüngst geschaffenen Konstruktionen von Susanne Kessler werkimmanente Voraussetzung und grundlegende Komponente. Auf dem Wasser schwimmend erheben sich in der Arbeit mit dem diskrepanten Titel »Wenn die Flüsse rück­wärts fließen« (Abb. 34, 35, 36) auf einem Eisenponton vierzehn skurril anmutende Haus- Zeichnungen auf großen Nesselfeldern, während in anderen Bereichen die dunkle, wesent­lich filigranere Linienführung durch das Weglassen, das Ausschneiden der von der Linie um­schlossenen Partien eigenwillig verfremdet wird. An anderer Stelle wiederum wird das Dargestellte durch Gaze verunklärt. Verschleierung und Bewegung, wie beim »Formen­karussell«, sind Motive, die die Neugierde des Betrachters wecken und, wie Susanne Kessler hofft, ihn »anlocken«2, um ihre Arbeiten zu erforschen. Wie alle ihre Konstruktionen ist das »Labyrinth« eine temporäre und variable Arbeit, die zu­gleich von ihrem Aufstellungsort lebt. »Das Labyrinth soll den Raum, in dem es ausgestellt ist, ausfüllen und muss deshalb erweiterbar, reduzierbar und variierbar bleiben.«3 Wenn Susanne Kessler in diesem Zusammenhang von Raum spricht, meint sie einen Ort, der mit dem Wesen der einzelnen Arbeit am direktesten zu korrespondieren vermag. Für das »Laby­rinth« würde sie sich einen Ort wünschen, der keine offensichtlichen zivilisatorischen Spuren aufweist4 und an dem Naturgewalten, wie Wind, Luft, Licht und Schatten, auf das Kunstwerk ungefiltert einwirken können. So dokumentiert sie in Fotografien die »wahren Orte« für ihre Konstruktionen, um auch in einem musealen Umfeld die Idee der idealen Aufstellung zu vermitteln. Einen Steinbruch sieht sie zum Beispiel für das »Labyrinth« als geeigneten Ort (Abb. 6), der zwar durch menschliche Einwirkung geformt wurde, sich jedoch durch das Ausgesetzt-Sein metamorphotischer Naturkräfte kaum von Naturlandschaften, wie Fels­schluchten oder Felsabhängen, unterscheidet.5Das Element Wasser ist für zwei der jüngst geschaffenen Konstruktionen von Susanne Kessler werkimmanente Voraussetzung und grundlegende Komponente. Auf dem Wasser schwimmend erheben sich in der Arbeit mit dem diskrepanten Titel »Wenn die Flüsse rück­wärts fließen« (Abb. 34, 35, 36) auf einem Eisenponton vierzehn skurril anmutende Häus­chen, gebaut aus Lehm und unterschiedlichsten Fundstücken. Dieses »Flußschlammdorf«6, wie es die Künstlerin nennt, visualisiert die lebenspendende und zugleich lebensbedrohende Kraft von Flüssen. Ansiedlungen und Stadtgründungen an Flüssen bezeugen seit Jahrtau­senden deren zivilisatorische Bedeutung, wobei sich im jahreszeitlichen Wechsel bis heute immer wieder die zerstörerische Kraft des Wassers offenbart. Nicht nur permanente existentielle Grunderfahrungen thematisiert Susanne Kessler in ihren Konstruktionen, sondern sie bezieht sich, gerade in den neueren Arbeiten wie »Wenn die Flüsse rückwärts fließen« oder »Bilancia Anfibia« (Abb. 31, 32) auf evolutionsbezogenes Gedankengut. Dass nach der Deszendenztheorie alle heutigen Lebewesen Nachfahren ein­facher aus dem Meer stammender Vorfahren sind, findet im Schaffen der Künstlerin seinen bildnerischen Ausdruck vor allem in ihren Zeichnungen. Diese sind als ausgeschnittene Lineamente auf Netze gespannt in die beiden letztgenannten Konstruktionen integriert. Amorphe Gebilde oder amphibische Lebewesen bewegen sich zwischen den Lehmhäusern oder bevölkern gemeinsam mit abstrahierten Drachenformen in »Bilancia Anfibia« den Himmel. Aus dem Wasser in die Luft, mit dem Zeitraffer durch die Evolution, ist das zentrale Thema dieser Arbeit, in der sich Lebewesen aus frühen Entwicklungsstadien, oder nur deren Innenorgane, mit Vogelwesen in den Lüften über dem Wasser tummeln. Dass das Gerüst für die Aufhängung der ersten Version dieser Arbeit, die 1995 an der Küste Dänemarks installiert wurde, zum Fischfang am Tiberdelta bei Rom7 gedient hatte, war ein glücklicher und zu­gleich ein kausaler Zufall. Auch in der 1996 bei ihrem Indienaufenthalt entstandenen Arbeit »The Universe Moves« (Abb. 5) manifestiert sich die außergewöhnliche Art der mobilen Zeichnung im Werk von Susanne Kessler: sie löste große, lineare Pinselzeichnungen wie Scherenschnitte aus der Leinwand und montierte dann diese fragilen Zeichen auf Fischernetze zwischen einem stabilen Bambusgerüst. »Die Idee der Netze brachte ich schon mit nach Indien (ich benutze sie seit 1995 als Bildträger)«, sagt Susanne Kessler. »Die Unsichtbarkeit des Netzes selbst fasziniert mich, die Anpassungsfähigkeit an Wasser oder Luft, ihre Beweglichkeit und ihre zarte Struktur«.8 Nicht in Netzen gefangen, sondern durch Netze von der Gebundenheit an die Leinwand befreit, werden diese beweglichen Zeichnungen zum charakteristischen Element der Konstruktionen seit Mitte der Neunziger Jahre. Immer wieder kreisen die Zeichnungen und die künstlerische Arbeit von Susanne Kessler generell um das Thema der Evolution und der menschlichen Existenz. Wurde bereits im »Labyrinth« die Frage nach lebenswichtigen Entscheidungen gestellt, so wird dieser Gedanke in »The Universe Moves« fortgesetzt durch die Darstellungen des menschlichen Ohrlabyrinths, das als Gehör- und Gleichgewichtsorgan der Wirbeltiere lebensnotwendig ist. »Die Zwischenräume der starken Bambuskonstruktio­nen wurden mit fragilen Netzen (Spinnennetzen gleich) verspannt«, erzählt Susanne Kessler, »auf denen ich eine der empfindsamsten Stellen des menschlichen Körpers darstellte: das menschliche Innenohr und das Ohrlabyrinth. Die menschlichen Ohrgänge und das Netz sollen wiederum Wasser assoziieren und auch hindeuten auf unsere Entwicklung als Men­schen: das Gleichgewichtsorgan nämlich, mit dem der Mensch den Akt vollzogen hat, auf­recht zu stehen und sich vom Tier abzusetzen.«’ Gleichzeitig dokumentiert sich in dieser Arbeit der Einfluss mehrfacher Indienreisen von Susanne Kessler auf – im wahrsten Sinne des Wortes – konstruktive Weise. Denn die vierteilige Bambusarchitektur, die das stabile Element in »The Universe Moves« bildet, hat sein Vorbild in den in Indien gebräuchlichen Gerüstkonstruktionen beim Häuserbau, bestehend aus zusammengeknoteten Bambusrohren. Wie wichtig Susanne Kessler die Materialbeschaffenheit ihrer Konstruktionen ist, wird ge­rade in dieser Arbeit evident. Ausgehend von traditionellen Materialien des Malers, Lein­wand, Papier oder Pinsel und Farbe, erweitert sie immer wieder aufs Neue durch ungewöhnliche, meist auf Reisen entdeckte oder gefundene Gegenstände ihr künstlerisches Repertoire: der Bambusbau in »The Universe Moves«, das Fischfanggerät in »Bilancia Anfibia« oder diverse Fundstücke in »Wenn die Flüsse rückwärts fließen«.

Gesehenes, Erlebtes, Erdachtes, Empfundenes verdichten sich in den Konstruktionen Susanne Kessler zu rational gestalteten und doch intuitiven Bild- und Raumkonstruktionen. Physisch erlebbare Raumgebilde erfassen den Betrachter und führen ihn in die Gedankenwelt der Künstlerin. Das permanente Oszillieren zwischen Bildfläche und Raum und zeitlicher Dimension charakterisiert die Konstruktionen von Susanne Kessler, wobei vor allem durch den zeitlichen Aspekt, sei es im Hinblick auf die temporäre Aufstellung oder jahreszeitlichen Einflüsse, die Kernaussage kontinuierlich thematisiert wird: »Nichts bleibt wie es ist, alles verändert sich, alles schreitet voran«.

 

Text von Dr. Bettina Paust im Buch zur Ausstellung „Susanne Kessler_Bilder, Konstruktionen, Arbeiten auf Papier“, Stiftung Museum Schloss Moyland, Sammlung van der Grinten, 1999