Mit ihrer überwältigenden, ausschweifenden und äußerst komplexen Installationen Jerusalem setzt Susanne Kessler ihre Erforschung jenes metaphysischen und organischen Substrats fort, das menschliches Handeln durchwirkt und formt, und gibt eine prophetische Stimme über den Zustand der heiligen und notleidenden Stadt zu bedenken. Kesslers Faszination für kulturellen Wandel und die zahllosen visuellen Formen, die genutzt werden, um diesen zum Ausdruck zu bringen, wurde nicht zuletzt dadurch geprägt und bereichert, dass sie seit über dreißig Jahren in der uralten Stadt Rom lebt. Die Ablagerungsschichten der Zeit sind in Rom allgegenwärtig und sichtbar; seit Jahrhunderten kommen Scharen von Historikern, Wissenschaftlern und Künstlern in die ewige Stadt, um ihre Geschichte zu studieren und aus ihr zu lernen.

Wie Rom ist auch Jerusalem eine Stadt der Schichten, die stetem Wandel unterworfen sind. Als Brücke zwischen Ost und West ist sie die Heimat der drei großen Religionen des Judaismus, des Islams und des Christentums, und damit die Quelle sowohl ihrer größten Geschenke als auch ihrer kaum lösbaren Probleme. Die zum Teil mit Gewalt ausgetragen Konflikte, die das gegenwärtige Jerusalem in Atem halten, sind allerdings nicht als gegeben hinzunehmen. Noch im 19. Jahrhundert, was nicht lange her ist, lebten Juden, Muslime und Christen friedlich und gemeinschaftlich in der heiligen Stadt miteinander. Heute halten sie Gläubige aller Konfessionen für „das Auge des Universums“ im Zentrum der Schöpfung und den Ort, an dem sich die Offenbarung erfüllen wird. Was ist das für eine Stadt, die auf der einen Seite so tiefe Einsichten in die großen Mysterien birgt und fokussiert, während sie auf der anderen Seite so viel Leid hervorruft wie kaum ein anderer Ort in der Welt?

Kessler nähert sich dieser Frage wie ein Alchimist, der mit stofflichen Formen innere Wahrheiten auslotet. Als sie sich der Aufgabe stellte, dem Wesen Jerusalems auf die Spur zu kommen, sichtete sie zunächst eine topographische Karte der Stadt aus dem 19. Jahrhundert. Solche Karten sprechen das Wechselspiel zwischen menschlichem Bemühen, Landformen, Wetterverhältnissen und der Ökologie von Flora und Fauna an. Sie spiegeln die Dialektik menschlichen Einfallsreichtums und seiner Triumphe wie Torheiten, die noch sichtbar sind in den freigelegten, auf die schriftlich dokumentierten Zeitläufte der Stadt bezogenen Schichten, das Auf und Ab ihrer Geschichte. Kesslers kartographische Quelle bringt solche bidirektionalen Adaptierungen organischer Naturformen und starr rechtwinklig urbaner Strukturen sinnfällig zum Ausdruck. Sie folgt den gewundenen, verworrenen Linien, durchmisst die Stadt mit Auge und Hand und spürt ihr als einem lebendigen Organismus nach, der aus einem jahrhundertealten Prozess permanenter Metamorphose gebildet ist.

Ihrem Impuls über die Grenzen der Vorlage hinaus folgend, erweitert Kessler ihre Untersuchungen in die dritte Dimension, indem sie ein Netz aus verdrillten Plastiktüten, Klebeband, Kabeln und Drähten über die fein kartierten Linien der Stadt spinnt. Als intonierte sie ein Mantra oder Gebet, folgt sie den Linien immer und immer wieder und zieht den abstrakten Rhythmus der Stadt an die Oberfläche und daraus hervor. So erhebt sich über der Karte in ihrem distanziert analytischen Blick auf die Stadt eine organische Körperform als Derivat einer alchimistischen Mixtur aus Farben. Im kostbaren Silber und Gold schwingt Hoffnung mit, das verkohlte Schwarz erinnert an Gewalt und Unfriede. Nichts bleibt außen vor, alles wird als Wahrheit dieser komplexen Stadt miteinbegriffen, der sowohl die starren, scharfen Dornen der Furcht angehören wie auch die leuchtenden Bänder des Glaubens, der Kooperation über alle Unterschiede hinweg und des Versprechens auf Liebe.

Zuletzt streift Kessler diese „Häute“ aus Drahtgeflecht von den darunterliegenden Wandzeichnungen ab – gleich einer Schlange, die sich häutet, um in eine neue Wachstumsphase überzugehen. Das Ergebnis ist ein dichtes und doch luftiges Netz aus rhythmisch schwingenden Linien, die frei im Raum schweben und den Eindruck unendlicher Multiplikation und Extension erwecken. Es erinnert an lebendige Systeme wie die neuronalen Bahnen im Gehirn, die Botschaften von einem Körperteil in einen anderen übermitteln, oder wie Myzelien, die Nährstoffe und Heilmittel in toxische Gebiete und Lebensverbände transportieren.

Der Blick durch dieses hängende Netzwerk trifft auf einundzwanzig dreieckige, mit Pergament verkleidete Objekte, in die Kartenausschnitte eingenäht sind, Evokationen der akkumulierten Weisheit der Kulturen Jerusalems. Ihre Formen erinnern an islamische Spiegel, christliche Reliquienschreine und jene Behältnisse, in denen koptische Christen ihre Bibeln aufbewahren. Nummer 21 deutet auf die drei Religionen und sieben Hügel der Stadt hin.

Jerusalem, herzzerreißendes Lamento und Psalm voller Lob und Hoffnung zugleich, durchkreuzt simple, binäre Formeln und weist Schuldzuweisungen, Urteile und alle Verzweiflung darüber zurück, was unveränderlich erscheinen mag. Kessler findet stattdessen Inspiration im historischen Prozess, der vom Wandel geprägt ist, und nimmt die in Jerusalem aufeinandertreffenden Glaubensbekenntnisse ernst, um eine komplexe Allegorie dieser außergewöhnlich potenten Stadt anzubieten und aufmerksam zu machen auf ihre zahlreichen Quellen für aktive, lebendige vernetzte Hoffnungen auf einen Frieden, der menschliche Grenzen und Konstruktionen überschreitet.

 

Text von Sarah Bliss zur Ausstellung „Susanne Kessler – Jerusalem“, American University Museum, The Katzen Art Center, Washington DC, 2015