Es nehmet aber und gibt Gedächtnis die See1
In Hölderlins Gedicht Andenken wird das Meer in seiner unfassbaren Ambivalenz des Gebens und Nehmens geschildert, in seiner riskanten, unkontrollierbaren Eigendynamik. Hölderlin illuminiert mit diesem Denkbild zugleich das kollektive Gedächtnis, das sich wie das Meer der Macht des Einzelnen, der Kontrolle entzieht. Erinnerungen fallen ein, huschen vorbei. Hölderlin assoziiert in dieser Hymne die Seefahrer, die sich hinaus ins Offene wagen, mit den Künstlern, beide setzen sich aus, sammeln und versammeln die prekäre Schönheit der Welt, ihre flüchtige Sinnlichkeit. Doch im Gegensatz zu der wechselvollen Existenz der See, auf der See können die Künstlerinnen und Künstler sowohl die Vergänglichkeit der Erinnerungsprozesse, das Unsichere aller bewahrenden Erinnerung reflektieren als auch die prekären Erfahrungsprozesse im Ereignis der Darbietung offenlegen. Es ist diese Doppelheit von Schönheit und Gefahr, von Fluidität und Form, die in Susanne Kesslers Arbeiten ausgetragen wird. Ihr Ausflug in die halb bekannten, halb unbekannten Meere zeichnen sich durchweg durch Neugier, Bewunderung, Anteilnahme aus und gerade dadurch können die dann entstehenden Sichtbarkeitsgebilde ein Verhältnis zwischen Bild und dem Betrachter, zwischen Blick und Gegenblick hervorrufen.
Susanne Kessler formt und transformiert in ihrer ozeanischen Recherche die Meeresbilder, hält ihren Fluss, die Bewegung anwesend. Das Meer ist mit Karl Jaspers ein Gleichnis zur Freiheit und Transzendenz, aber man muss es aushalten können, dass nirgends der feste Boden ist, gerade dadurch jedoch der Grund der Dinge spricht. Im uferlosen Blick lösen sich innere Grenzen auf, so wird nicht nur die Idee der Freiheit anschaulich, sondern auch die damit einhergehende Verantwortung, das existenzielle Risiko, das mit der Freiheit verbunden ist. 2 Zugleich thematisieren Susanne Kesslers Arbeiten die immer poröse Grenze, das komplexe Spannungsverhältnis von Ethik und Ästhetik, ihre Verbindung, aber auch ihre Polaritäten und Differenzen. Durch die Freiheit von Susanne Kesslers Vorstellungskraft entstehen Bilder, die kategoriale Trennungen in Schwingung versetzen, verflüssigen, Störstellen im Selbstverständnis der Moderne und ihrer Weltentdeckung markieren. Sie sammelt das Material, die Historie und die damit verknüpften geographischen Auseinandersetzungen der See, füllt sie im aktiven Prozess des Verstehens und der Verwandlung. Dabei entstehen diese Objekte nicht aus unbeteiligter Betrachtung, eher sind sie riskante Verpflichtung, verbürgende Antwort. Was mit der natürlichen Lebenswelt geschieht, kann uns „zweibeinigen Landtieren“ nicht gleichgültig sein. Susanne Kesslers eindringliche visuellen Reflektionen sprengen komplexen Sinn im Prozess ihrer Kartographierung der Meere frei, macht ihn als Erkenntnis und Entdeckung zugleich sinnlich erfahrbar. Es ist, als ob in diesen Bildobjekten permanent materielle und energetische Flüsse miteinander in Wechselwirkung treten. Und dieses Ineinander öffnet sich zu einer seherischen Aufgabe.
Ehe das Meer und die Erde bestand und der Himmel, der alles bedeckt, da besaß die Natur nur ein einziges Antlitz, Chaos genannt, eine rohe und ungegliederte Masse.
Zwar war die Erde daselbst vorhanden und das Meer und auch der Lufthauch,
Aber die Erde gewährte nicht Stand, das Wasser kein Schwimmen,
Lichtlos waren die Lüfte. Es schwankten die Formen der Dinge, eines hemmte das andere, in ein und dem nämlichen Körper.
Kämpften das Kalte und Warme, es rangen das Trockne und Feuchte,
Weiches stritt sich mit Hartem, was ohne Gewicht mit Schwerem.3
In einer Art profaner Genesis geht Susanne Kessler der vielfach geschichteten Geschichte der Meere, der Entstehung der Welt, der Kontinente, wie wir sie nun vorfinden, nach und damit auch der Verschiebung, der Elastizität des scheinbar Ewigen. Wie in Ovids Metamorphosen wird aus dem Ungeformten, aus disparatem Material, aus dem Unbestimmten, aus dem waghalsigen Ineinander von Gegenläufigem, aus Hartem und Weichem, aus Leichtem und Schwerem Gestalt. Ihre komplexen Arbeiten, ihr mise-en-scène der Bildobjekte im Raum siedelt zwischen Differenz und Wiederholung und in jeder Wiederholung verschränken, verschieben, verändern und mobilisieren sich die materiellen und imaginären Mitspieler. Diese Dinge thematisieren grundsätzliche Spannungen und ihre labile Synthese. So sind Susanne Kesslers Tondi als Kreise ideale Form, in ihrer turbulenten Binnenstruktur unwägbares Ereignis zwischen Materialien, Vorstellungen, Entwürfen und Erinnerungen. Auch die gestickten, genähten Ozeankarten sind gleichsam eine Penelope-Arbeit des Eingedenkens, balancieren Heimliches und Unheimliches, Dunkles und Helles, Ordnung und Chaos. Und wie wir in der Erinnerung nur Fransen des gelebten Daseins in Händen in Händen halten, so lässt Susanne Kessler Fäden und Fransen auszipfeln, hält in der Vorder- und Rückseite der Stickerei die Dialektik von Konstruktion und Destruktion offen.
In unterschiedlichen Medien entsteht ein visuelles Archiv der Weltmeere und wie in dem Wortstamm arche verbinden sich der Anfang, das Prinzip, der Urgrund mit der steten Modulation dieses basierenden Prinzips, auf dem sich immer neue Konstellationen bilden können. Alles, was lebt und existiert, verdankt das Sein letztlich diesem Grund und löst sich in ihm auch wieder auf. Derridas Text Dem Archiv verschrieben facettiert den Begriff des Archivs, wie es bereits im französischen Titel der Publikation Mal d’Archives anklingt: Der Begriff Mal – Mühe, Weh, Leid, das Übel, das Böse – muss sich nicht exklusiv auf Inhalte beziehen; auch ein dem Archiv inhärentes Übel oder gar das Archiv selbst als Übel kann gemeint sein,4 andererseits kann Mal auch auf eine Sehnsucht, einen Wunsch hinweisen, wie beispielsweise in Mal du pays – Heimweh.
Susanne Kesslers Bildobjekte, ihre Raum-Inszenierungen unternehmen Reisen in die Raum-Zeit, in die Vergangenheit und Zukunft, in die Geschichte und das Gedächtnis der Welten und spannen in ihrer künstlerischen Reflexion „die uns mit der Welt verknüpfenden Fäden auf, um sie erscheinen zu lassen.“5 Ihre Bilder sind mobil und mobilisierend. Sie durchqueren und organisieren Orte und eben darin besteht ihre raumbildende Energie. Bilder und Bildvorstellungen durchwandern auch die subjektiven Geschichten, sie kommen von weit her, sie überschreiten kulturelle Räume, überkreuzen die Grenzen von Natur und Kultur, von Anthropologie und Mythos. Bilder sind aber immer auch Recherche der künstlerischen Medien, die sie jeweils in neuem Gewand einsetzen, im Spiel und Widerspiel von Inhalt und Form. Die Möglichkeiten der Bildlichkeit, die Wirkungsweisen der Fiktion schwingen im Auftauchen von Susanne Kesslers Gebilden, in ihrem dynamischen, polyphonen, konzertanten Ereignis mit.
In ihrer Malerei, in Collage, mit Objekten jongliert Susanne Kessler schon in frühen Arbeiten mit der Kartographierung der Welt.
Globen und Landkarten sind eine komplexe Angelegenheit. Sie sind Porträts der Welt, aber natürlich müssen sie Dinge verschweigen, verkleinern, was in der Weite des Raums existiert. Sie wählen aus, simplifizieren, ignorieren die sorglose Exzentrik der Natur. Sie sind Zeugnisse der Welteroberung und Orientierungshilfe im Labyrinth der Welt und zugleich Kristallisationen des Wunsches nach Orientierung, nach einer durchschaubaren Welt. Karten sind Bildsymbole mit Doppelcharakter: als relationsgetreues Schema der Erdoberfläche und als abstraktes Abbild einer nie geschauten Wirklichkeit siedeln sie im Zwischenraum zwischen Bild und wissenschaftlichem Zeichen.
Eigenwillig und souverän schaltet Susanne Kessler mit diesem Material, mit der Kartographierung der Weltmeere, löst die alten Konturen und Gewichte der Kontinente auf, konfiguriert neu, lässt uns frische Blicke auf die Imagination der Welt werfen, lässt Disparates sich miteinander verquicken – und dies leichtfüßig und in großer Fülle. Was ist die Lesbarkeit der Welt? Sie befragt und erfindet die alte (pathologischen) Sehnsucht, die Welt zu verstehen, zu ordnen, zu gewichten. Was wir zu wissen glauben, wird Fiktion – und umgekehrt.
Susanne Kesslers Kartenwerke umspielen damit ganz frei die vielfachen Facetten der kartographischen Darstellung und damit die Frage nach der Veranschaulichung überhaupt. Karten sind zugleich Experiment mit dem Realen als auch Konstruktion des Unbewussten und immer zeichnen sie sich aus durch Potenzialität und Flexibilität: „Die Karte ist offen, sie kann in allen ihren Dimensionen verbunden, demontiert und umgekehrt werden, sie ist ständig modifizierbar. Man kann sie zerreißen und umkehren, sie kann sich Montagen aller Art anpassen.“6
Zeichen und Zeichnung: Geo graphein bedeutet im Griechischen das Zeichnen (oder Schreiben) der Welt, und so ist die Geografie auch die Geschichte der Interpretation und Verwandlung von Welt. Zugleich ist sie die Geschichte einer Linie – und als solche nichts anderes als das Zeichnen des Lineaments durch die Welt. Es ist diese Linie, die in unterschiedlichen Materialien, in Verschlingungen und Verwebungen auch der Ausgangspunkt und wesentliches Element von Kesslers Entwürfen ist. Mit Deleuze und Guattari sind auch wir „aus Linien zusammengesetzt… Oder vielmehr aus Linienbündeln, denn jede Sorte ist vielfältig.“7 Auch wir finden und erfinden Fluchtlinien, konturieren, bezeichnen und verzeichnen. Linien sind die Matrix menschlicher Navigation und beschreiben die Bahnen unseres Handelns. Susanne Kesslers sind durch die Welt navigierende Mannigfaltigkeiten, sie zieht Linien, setzt Flächen, Gespinste, Räume und Zwischenräume.
Diese Montagen leben und verlebendigen sich in einem andauernden Prozess der Neuverbindung, der Verkehrung, öffnen unterschiedliche Ein- und Ausgänge, lässt die Linie immer wieder frei: Eine Bewegung im Werden. Sie ist eine Forscherin in Zwischenreichen, souverän und beherzt spielt sie mit der Farbe, mit der zeichnerischen Linie, mit Materialien und Bildträgern. Wie Musils Mann ohne Eigenschaften, der beim Nachdenken über so etwas Simples wie Wasser in unordentliche Gesellschaft gerät, kommen wir in der Betrachtung der Objekte in Gefilde „die untereinander irgendwie zusammenhängen, und es gibt auf der ganzen Welt nur einige Dutzend Menschen, die selbst von einem so einfachen Ding, wie es das Wasser ist, das gleiche denken; alle anderen reden davon in Sprachen, die zwischen heute und einigen tausend Jahren früher irgendwo zu Hause sind.“8
Wie in einem Netz fangen die Montagen dann bekannte oder fern-vertraute Bilder zugleich mit Heterogenem und gänzlich Unerwartetem ein, die den Formgrund der Bilderfindungen gleichsam als ihre submarine Geschichte erzählen, die Rückseite des Teppichs zeigen, wo die gleichen Fäden, die gleichen Farben in anderer Art einschießen, ein anderes Muster geben. Was entsteht, ist turbulente Dichte, in der jede Einzelheit vieldeutig wird, wobei die Form aus dem Prozess von Annäherung und Entfernung, von Drehungen und Spiralen, selbst entsteht.
Wie bei der Ausfahrt aufs Meer kann man auch bei Susanne Kesslers Gebilden nicht bei eingefahrenen Sichtweisen verharren, man wird hinausgetrieben in offene, komplexe Gefüge, die nie an’s Ende kommen. Diese Kartenwerke sind gleichermaßen ein Ins-Werk-Setzen eines Wissens von der Welt und ein Eingriff in dieses Wissen, der immer neue Sichtweisen entfaltet. Susanne Kesslers kartografischen Fiktionen oszillieren zwischen Entdeckung und Erfindung, Rätsel und Lösung, Ästhetik und Technik, sie geben Wege und offene Weltsicht. Dabei steckt die Bedeutung in der Oberfläche, in der handelnden Gestaltung der Oberfläche, durch die etwas zur Erscheinung kommt, sie steckt im Sichtbaren. Was physische Faktur eingesetzt wird, wird zugleich als bewegter Rhythmus erfahren, wird zu einem Geschehen, in dem sich Form mit Zeit, Formung mit Veränderlichkeit verbinden. Die Arbeiten schweifen aus in die Unendlichkeit der See und wieder zurück.
Von Ferne erinnern die Objekte an die so merkwürdige surrealistische Weltkarte, ein Capriccio, ein Gedankenspiel, das mit den Kontinenten und mit unseren Vorstellungen von der Kartographie der Welte ganz willkürlich schaltet: ein Rätsel ohne Schlüssel.
Die Tondi, Reliefs, die Materialien und Farben montieren, durch Pfeile, Linien, Schlaufen und Schleifen akzentuieren, halten Einfall, Zufall, Schnitt und Verbindung in dichter Balance. Auch die Stickbilder, die luziden sich überlagernden Projektionen, die Bündel und Knäuel verweben und verbinden, lockern und lösen – auch die mit den Ozeanen verbundene Vorstellungen. Das Ineinander ist jeweils anders ein visuelles Ereignis, das doch auf ein Außen, die Welt verweist: Ganz aus Susanne Kesslers künstlerischem Vokabular entwickelt, halten die Objekte doch in jedem Augenblick, gleichsam subkutan, die Beziehung zur kritischen Reflexion präsent, führen hinein in die Kunst, in ihren Imaginationsraum, der noch etwas nie Dagewesenes zur Anschauung bringt und zugleich hin zu der Welt: Diese Reliefs sind auch in diesem Sinn ein Übergängiges: Begegnung mit der Welt und Forderung, in der Welt zu sein, teilzunehmen, zu sehen, sich selbst ein Bild zu machen.
Die Arbeiten von Susanne Kesslers sind wie Vexierbilder der alten Spiegelfrage: „Warum beunruhigt es uns, daß die Karte in der Karte enthalten ist und tausendundeine Nacht in tausendundeine Nacht?“9
1 Friedrich Hölderlin, Andenken, in: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd. 2, hrsg. von
Friedrich Beißner, Stuttgart 1951, S. 188f.
2 Vgl. Karls Jaspers, Was ist Philosophie, München 2013, S. 7
3 Ovid, Metamorphosen, Erstes Buch, 5 – 20, Stuttgart 1982, S.23
4 Vgl. dazu Jaques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 26
5 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 10
6 Gilles Deleuzes, Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977, S.21
7 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 277
8 Robert Musil, Mann ohne Eigenschaften, S. 113
9 Jorge Luis Borges, Magische Einschübe im Quijote, in: Borges, Inquisitionen, Werke in 20 Bänden, Bd. 7, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, S. 59