Ein Bild oder ein Objekt kann man nie ganz erklären, so schrieb einst der erst kürzlich in hohem Alter verstorbene bekannte Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich.‘ Geheimnisse verbirgt es stets in sich. Sanfte Erklärungen, Deutungen und Hinweise öffnen jedoch einen Zugang in ein künstlerisches Oeuvre, wecken Neugierde für den Künstler und dessen Tun, Gedanken und Ideen und können Anstöße zur weiteren Beschäftigung mit zeitgenössischer, zumeist sehr individueller Kunst – und mit der haben wir es hier zu tun – bilden.
Es bewegt sich etwas, es liegt etwas in der Luft, hier wird aufgetürmt, hier braucht es Zeit: Beschreibt dies die Arbeitsatmosphäre in einem Rathaus? Nein, gemeint ist die Ausstellung mit einigen von Susanne Kessler eigens für das Rathaus in Hamm ausgewählten Werken. Die Ausstellung korrespondiert jedoch denkbar gut mit dem außergewöhnlichen Ort. Ist nicht ein Rathaus auch eine Stätte sich entfaltender, gefundener und wandelnder Gedanken?
Die gezeigten überwiegend großformatigen Arbeiten machen lediglich einen geringen Teil dessen aus, was Susanne Kessler geschaffen hat. Einen Eindruck ihres umfangreichen und durch eine Vielfalt an verwendeten Techniken und Materialien gekennzeichneten Werkes gewinnt man beim Anblick ihres Ateliers in einer ausgedienten Jugendstilfabrik in Wuppertal. Neben Italien ist dies ihr liebster Arbeits- und Lebensbereich. Wer dorthin eingeladen ist, bewegt sich annähernd wie in einem Labyrinth inmitten unerschöpflicher Zeichnungen und Bilder. Zuweilen versperren hohe, zum Tei1 unfertige Leinwände oder Objekte den Durchgang. In einer Ruhezone liegen die zahlreichen intensiv farbigen Malbücher, die sowohl als Skizzen- als auch als Reise- und Tagebücher zu werten sind und in denen die Künstlerin Geschehenes und Empfundenes festgehalten hat.
Am Beginn des künstlerischen Schaffens von Susanne Kessler standen gegenständliche Formen, vorwiegend Architektur- und Landschaftsbilder. Bald darauf zeichnete sich ein großer und für die weitere Entwicklung bedeutsamer Bruch ab. Malgründe wurden unversehens mit Farbe überschwemmt, Landschaften, Menschen und Dinge gingen in den Fluten unter, bis nur noch Fragmente und Spuren davon zurückblieben.
”Überflutungsbilder” nennt die Künstlerin sinnigerweise diese Arbeiten. In ihnen setzte sie ihre Energien frei, und das Moment der Bewegung und das gewünschte ”Durchseelen” der Bilder erhielt Eingang.
Susanne Kessler beschäftigt sich mit unterschiedlichen Kunstgattungen. Seit langem widmet sie sich der Zeichnung, die sie auch Zeichnung nennt; außerdem der Malerei, diese nennt sie jedoch Bilder oder Leinwände. Häufig enthalten die Zeichnungen einen malerischen Charakter, während die Bilder sehr zeichnerisch wirken können. Ab 1984 gilt das Interesse den Raumobjekten bzw. den raumdurchdringenden und raumbildenden Installationen, ihren so genannten Konstruktionen. Obgleich jede Gattung für sich allein angewandt wird und ihr eigenes Gepräge erhält, kommt keine ohne die andere aus. Oftmals dienen Gezeichnetes und Malerei zur Planung, zur Entwicklung oder zur Definition eines Themas. Und so finden sich mitunter gezeichnete und gemalte Komponenten auch in den Konstruktionen wieder.
Stets fängt die Künstlerin klein an und baut ihre Arbeiten sukzessive zusammen. Unebenheiten und Schichtungen gelten als wichtiges künstlerisches Prinzip, so dass das Erarbeiten jedes einzelnen Werkes durch die Künstlerhand ebenso wie auch die Erschließung der Arbeit durch den Betrachter Zeit braucht. Zur Realisierung verwendet sic variantenreich eingesetzte Materialien, u.a. Leinwände, Papier und Nessel, Pastelle, Kohle, Acryl, Tusche, Sepia, Asphalt, ferner Gaze, Fischernetze, Drähte und Gestänge.
Eine strukturierte Textur in den Bildern wird erreicht durch die in Gewicht und Ausmaß, Dichte oder Transparenz, Fluss oder Körnung, Schwarze oder Farbigkeit verschiedenartigen farbigen Substanzen sowie durch eingestreute Zeichen- und Materialfragmente. Die 1997 datierte und unbetitelte Collage (Abb. 6/7), die mit einem Eisenrahmen umfasst ist, bietet in der Tat kein Kabinettstück, in das man genießerisch hinein sinken könnte. Kraftvolle und feine Linien bewegen sich über den Malträger, kriechen in ihn hinein oder scheinen darauf wie schwebend. Wie die Wege eines Irrgartens durchlaufen oder begrenzen sie erdige Farbflächen. Das Auge ist aufgefordert, ständig dem Bewegungsfluss nachzugehen und über die verschiedenen räumlichen Schichten zu springen, deren Eindruck durch eingestreutes Stückwerk forciert wird. Die aus anderen Bildwerken ausgeschnittenen Teile wurden durch weitere Übermalung nun in das neue Bild integriert, ohne dass die Bruchstellen so vollkommen zum Verschwinden gebracht würden. Abstraktes und Gegenständliches, wie etwa ein Fisch, ein Auge, Ohr und Geäst, stoßen eng aneinander, überlappen sich oder scheinen miteinander zu verschmelzen. Einer informellen Vorgehensweise vergleichbar sind hier der Wechsel von Unterbewusstem und Kontrolle, von Spontanem und Überlegenheit und der Einsatz physischer, psychischer und geistiger Energien deutlich spürbar. Die Begrenzung des Malträgers ist aufgehoben. Die Formenfragmente füllen nicht den gesamten Bildraum aus oder drängen, wie das schmalere Pendant zeigt, über diesen hinweg, sie lösen sich davon.
Aus diesen Gestaltungsprinzipen entwickeln sich frei im Raum schwebende Reliefbilder und schließlich Konstruktionen, für die Susanne Kessler einen passenden Ort, eine Landschaft sucht. Einer Einladung des pakistanischen Goethe-Instituts Folge leistend ließ die Künstlerin im Jahre 1996 eine eigens für Lahore geschaffene Arbeit, ein 14 Meter langes Tuch mit dem Titel ”Only to vanish once more” (Abb. 7), durch die ganze Stadt wandern. “Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, vom ersten bis zum letzten Gesang des Muezzins, stand, hängte, spannte ich mein Tuch an verschiedenen Stellen auf.”* In verschiedenen Formen gefaltet und von grundverschiedenen Gegenden umgeben, verwandelte sich die Arbeit z.B. im Garten des Goethe-Instituts in eine Schlange, fungierte als Barriere auf dem Fluss Ravi, als Windschutz für Hirten, die am Flussufer Büffel hüteten, und schließlich als Fahne an einer frequentierten Straßenkreuzung. Auch in Deutschland war das Tuch bereits mehrfach ausgestellt, so auf Schloss Moyland am Niederrhein und in der Galerie der Stadt Remscheid, wo es die Besucher als schützendes Dach am Eingang empfing. Gegenwärtig verhüllt es das Treppenhausfenster im Rathaus in Hamm. Neben der allgemeinen Bedeutung des Tuchs als sanfter Schutz und Umhüllung ist sich die Künstlerin dessen praktischer Handhabung bewusst: “Das nomadenhafte Wohnen war ein Teil meiner Lebenserfahrung. Immer unterwegs muss ich sehen, dass meine Arbeiten zu zerlegen,sie so klein wie möglich zu packen waren. Auseinanderschiebbares Gestänge, rollbares Tuch wurden durch meine Lebensumstände zu mit Vorliebe benutzten Materialien und sind es bis heute geblieben. Sie behalten für mich das Ungesetzte und die Unruhe und das Nicht-Statische, das mir bei meinen Kunstwerken wichtig ist.”* Wiederum aus unerschöpflichen Farbmitteln, Bodenablagerungen, aus Skizzen, Zeichnungen und Schriftzeichen bestehend, aus Genähtem und Geklebtem trägt das Tuch einen kunstvoll gefertigten Text in der Urdusprache. Da die Pakistani dieser Schrift mächtig sind, wurde das Tuch zum Kommunikationstuch. Die sehr ästhetisch anmutenden Schriftzeichen, insbesondere bei vertikaler Hängung gut zu erkennen, geben einen Auszug aus dem Werk des muslimisch-pakistanischen Dichters und Philosophen Iqbal über Kunst wieder:
O, Shining traveller: this is a strange habitation.
The rise of the one is the fall of the other:
Inactivity is impossible in sphere of nature.
Change is the only thing permanent on this world… Long blank current of time empty of sunset or dawn? All Arts wonder arise only to vanish once more.
All things built on this earth Sink as if built on sand.
In Anbetracht der ursprünglich bestimmten Aufstellungen in Außenbereichen in Lahore trägt das Tuch viele Risse und Staub — Narben, die auf die Spuren des Lebens, des Geträumten, auf das Wiederverschwinden hinweisen.
Ähnliche Gedanken hat Susanne Kessler in der zu Anfang des Jahres entstandenen Konstruktion “Babylon” (Abb. Umschlag) verwirklicht. Aus gepressten lädierten Spanplattendeckenrastern hat die Künstlerin einen Turm gebaut. Kaum wahrnehmbar umhüllt ihn ein Fischernetz, um das noch nach außen hin eine orientalische Schrift gelegt ist. Die Leichtigkeit und Transparenz der äußeren Materialien bieten keinen ausreichenden Schutz für den auf den ersten Blick kompakt wirkenden Baukörper.
Eigentlich auf den Turm von Babel Bezug nehmend, der seit biblischen Zeiten als Symbol für den menschlichen Hochmut gilt, steht das lose geschichtete, sanft verhüllte Gebilde allgemein für die Sinnlosigkeit, Dinge und Leben erhalten zu wollen. Der Turm hat durchaus auch eine unvermutete und beklemmende Aktualität gewonnen, bedenkt man die unvergesslichen Ereignisse am 11. September 2001 in den USA, die Zerstörung der beiden Türme des World Trade Centers in New York.
Susanne Kesslers Passion ist es, nach vergänglichen, verlorenen, vergessenen Dingen zu suchen oder sie konkret für vorgebildete Ideen zu sammeln. Die Konstruktion “Anwachsendes Gebilde” (Abb. 14), aus den Jahren 1995/2001, hat eine baumartige Form mit einem Geäst aus bemalten und fest gedrehten Stoffen, aus “Früchten”, geformt aus runden Leinwänden, Drahtgeflecht, Pappmaché und ausgedienten Alltagsgegenständen. Auf das Symbol des Lebensbaumes, des Wachsens und des sich Veränderns hindeutend, erfährt die ästhetische Form von Zeit zu Zeit durch die Hand der Künstlerin immer wieder eine Zunahme und Verwandlung.
Einen Hohepunkt ihrer künstlerischen Prinzipien durften die so genannten Räder darstellen. Das Rad, ohne Anfang und Ende, ohne Rechts und Links, ohne Unten und Oben ist ein für die Menschheit uraltes nützliches und kultisch bedeutsames Element. Als Bewegungs-, Schutz- und Sonnenzeichen symbolisiert es den ewigen Kreislauf und den Kosmos. Um die verschiedenen Bedeutungen des Rades in den fremden Kulturen weit die Künstlerin genau. Zwei der drei ausgestellten großen und mit der Hand drehbaren Räder (Abb. 5/Abb. 8) mit dem Durchmesser von 150 cm entwickelte Susanne Kessler im längeren Zeitraum von 1993 bis 2001. So entstanden nach und nach dicht übereinanderliegende Schichten u.a. aus Leinwänden, Papier und Folien, Gazen und Nessel, mit Rötel, Asphalt, Sepia, Tusche, Kohle, mit organischen Formen, Zeichen und Schriften versehen. Der Arbeitsweise eines Archäologen entsprechend heißt es hier, behutsam in die Tiefe zu gehen und dabei die einzelnen Schichten aufzudecken. Manche Stellen sind verschlossen; einige ermöglichen jedoch tiefer zu dringen, bis hin zu den vergangenen künstlerischen Kräften, die weit im Inneren liegen. Inn umgekehrten Sinne geht das künstlerische Schaffen sanft ruckblickend voran.
Wie das menschliche Dasein unterliegen die Werke von Susanne Kessler dem Faktor Zeit, was sowohl ihre künstlerische Entwicklung als auch ihre Betrachtung betrifft. Sie sind variable Kunstwerke der Zeit, sie wachsen allmählich, verändern sich und entschwinden wieder. Mit ihrer Kunst hat die viele Länder bereisende und nachdenkliche Künstlerin etwas Gemeinsames für alle Menschen gefunden, die gewillt sind, auf die Suche nach den eigenen Wurzeln zu gehen, und die verstehen, dass “nichts bleibt wie es ist, alles sich verändert und alles voran schreitet”.
Ernst H. Gombrich: The Story of Art, Oxford 1972, S. 148
Susanne Kessler im Gesprach mit der Autorin am 21. November 2001
Ute Haug, in: Susanne Kessler. Bilder, Konstruktionen, Arbeiten auf Papier. Katalog der Ausstellung im Museum Schloss Moyland (vom 7. August -24. Oktober 1999), Bedburg-Han 1999, S. 68-70
Susanne Kessler: Bericht in Bremen aus dem Jahr 2000 (unveröffentlicht)
5 Petra Matusche, in: Susanne Kessler in India and Pakistan 1995-1996, Max Mueller Bhavan, India, Goethe-Institut, Pakistan and the Museum Abtei Liesborn 1997, S. 9
Susanne Kessler: Vortrag der Künstlerin an der Kunsthochschule in Bremen aus dem Jahr 2000 (unveröffentlicht)
Susanne Kessler im Gespräch mit der Autorin am 20. November 2001
Text von Diane Leinz-Weber im Katalog zur Ausstellung „Susanne Kessler – Bilder, Konstruktionen, Arbeiten auf Papier“, Stiftung Museum Schloss Moyland, Sammling van der Grinten, 1999