Reisen und Malbücher sind wichtige Bestandteile des Lebens und Werks von Susanne Kessler. Noch während ihrer Ausbildungszeit beginnt Susanne Kessler zu reisen, gleichzeitig entstehen in den Jahren 1982, 1983 und 1984 die ersten Malbücher. Bis heute sind neben ihren Zeichnungen, der Malerei und den Konstruktionen unzählige »Bücher«, wie die Künstlerin sie selbst bezeichnet, entstanden. In ihrer Fülle ist ihr gesamtes künstlerisches Potential gebündelt.
Künstlerbücher, Objektbücher, Buchwerke und Malbücher als ein künstlerisches Ausdrucksmittel, das im Jugendstil, den Zwanziger Jahren, bei den russischen Futuristen und Kubo- Futuristen, den Konstruktivisten und den Dadaisten seine Wurzeln hat, geben nur einen Ausschnitt der vielfältigen Möglichkeiten des künstlerischen Umgangs mit dem Medium »Buch« wieder.(1) Eindrucksvolle Beispiele von Künstlerbüchern und Buchobjekten sind in den Sechziger Jahren entstanden. Die Künstler des Fluxus und Happenings, der Konkreten Poesie und der Concept Art bieten eine große Anzahl von Beispielen an.(2) Dieser Aufschwung begründet sich möglicherweise in der zu dieser Zeit heftig geführten Diskussion um die neuen Medien und die Gefahren, die dem klassischen Buch durch diese drohen.(3) An den meisten Künstlerbüchern ist zu beobachten, dass trotz aller Verfremdungen und Veränderungen das Buch mit seinen ihm eigenen Besonderheiten ein Mittel der Kommunikation zwischen Künstler und »Leser« bleibt. Oftmals loten Künstler und »Leser« dabei das Medium Buch bis an seine Grenzen aus.(4)
So sind die Bücher Susanne Kesslers nicht zu sehen. Es geht bei ihr nicht um das Ausloten solcher Grenzen. Susanne Kessler greift die Eigenschaften des Buches bewusst auf. Ihre Malbücher sind gleichermaßen Sammlung, Dokumentation und Ausdrucksträger ihrer künstlerischen Anliegen. Sie bilden ihre Bibliothek, aus deren Reservoir Susanne Kessler schöpfen kann. Die Üppigkeit des hier Gesammelten steht in einem für die Künstlerin spannungsvollen Kontrast zu den ausgeführten großen Arbeiten, deren Umfang durch vielerlei Faktoren limitiert ist.
Das erste ihrer Bücher »Schwebende Formen« von 1982 ist ein Skizzen- und Ideenbuch, in dem die Künstlerin ihre ersten Ideen zu einem für sie wichtigen Thema, den »Flugobjekten«, entwickelte und ausarbeitete. Es findet 1984 seine Fortsetzung in dem »Ideenbuch für Luftschiffkonstruktionen« (Abb. 40). Das Buch von 1982, das als Ausgangspunkt ins Schweben geratene architektonische Formen hat, ist im traditionelleren Sinn als Skizzenbuch zu sehen. Die verwendeten Mittel sind die der Zeichnung und unterstützen den skizzenhaften Eindruck. Es enthält Ideen Susanne Kesslers als Potential für eine weitere Ausarbeitung in größeren Arbeiten – wie den schwebenden Konstruktionen – oder auch für neue Malbücher – wie etwa »Das Buch der Liebe«, 1982-83« (Abb. 47) -, die ihrerseits wiederum in die Malerei Eingang finden. Im Verlauf der künstlerischen Entwicklung erweitern sich die Bedeutungsebenen der Malbücher. Es entstehen solche, die mit sich verändernden Werkphasen – »Von Weiß bis Schwarz«, 1984, (Abb. 46) – oder mit ihren Reisen und den vielen gesammelten Eindrücken in Paris, London, Südfrankreich, Afrika, Südamerika, Indien und Nordamerika korrespondieren. Auch einschneidende Lebenserfahrungen und dadurch geprägte Seh- und Wahrnehmungserlebnisse werden von den Malbüchern, wie etwa »Tommasos Bücher«, 1992-93, dokumentiert.
Die Bücher von Susanne Kessler sind Reisebücher, Tagebücher und Skizzenbücher. So verschiedenartig ihre Funktion ist, so unterschiedlich sind auch die eingesetzten künstlerischen Mittel. Von der Zeichnung über die Malerei bis hin zur plastischen Gestaltung ist, analog zu ihren künstlerischen Mitteln, alles möglich. Immer entsprechen die Ausdrucksformen ihrer Bücher denen der großen Arbeiten.
Aber auch die ursprüngliche Funktion des Buches wird eingesetzt: die Intimität des Blätterns oder Lesens. Nur selten benutzt Susanne Kessler Blankobücher, meistens ist ein altes Kontobuch die Basis für ihre Be- und Überarbeitungen. Mit dem Einsatz alter Bücher, die eine Form von Geschichte bereits enthalten, gibt die Künstlerin einen wesentlichen Bezug zu der Thematik ihrer Arbeiten vor, nämlich der eigenen Geschichte. Diese wird vor und in der Natur durch das persönliche Erleben geschrieben. Gedanklich ist damit für die Künstlerin ein sehr konkreter Ausgangspunkt gegeben, der über die geistige Verarbeitung zu einem zumeist abstrakten Bildzeichen wird. Dieses wird gezeichnet, gemalt, geschnitten, überklebt, mit dünneren Materialien überzogen und in vielfältige Beziehungen zu anderen gesetzt. Dabei ist die Künstlerin spontan und ungefiltert, da diese Arbeit es ihr erlaubt, nicht so bedacht und konsequent vorzugehen wie etwa bei der Ausführung größerer Bilder.
Die Bücher laden zum Durchblättern ein. Ein aufgeschlagenes Buch zeigt dem »Leser« immer zwei seiner Seiten gleichzeitig. Sie können sich, wie in geschriebenen Büchern, aufeinander beziehen. In den Malbüchern geschieht das durch die Führung der Zeichnung, dem malerischen Gestus und der Farbe und durch in einzelne oder mehrere Seiten geschnittene Öffnungen, die vielfältige Ausblicke und Bezüge schaffen. Andere Seiten stehen für sich und bilden eine abgeschlossene kleinere Einheit. Innerhalb der zeitlichen Abfolge, in der eine sich entwickelnde Geschichte impliziert ist, wird über einzelne Seiten und die Bezügen der Seiten zueinander in Abschnitte – Kapiteln vergleichbar – unterteilt.
Hier eröffnet sich eine andere Bedeutungsebene: Es gibt immer zwei Seiten, deren Dualität, die Natur und die menschliche Existenz, immer auch Thema in dem malerischen und zeichnerischen Werk Susanne Kesslers ist: Die zwei Seiten eines Buches, das blaue Buch »Nachtgesänge« (Abb. 43) und das gelbe Buch »Und wieder habe ich etwas unter der Sonne beobachtet« (Abb. 42) sowie die großformatigen Diptychen.
Die Bewegung des Blätterns, das Fortschreiten der Geschichte, die verschiedenen Aspekte der Erzählung, des Erlebten und des Gedachten wird in den Konstruktionen als eine Ebene wieder aufgegriffen, indem diese sich bewegen und für den »Leser« vielseitig in des Wortes eigener Bedeutung sind.
Die Reisebücher entstehen nicht explizit als Reisebücher, sondern sind praktische Konsequenz aus dem großen Reisebedürfnis und der Notwendigkeit, Gesehenes und Empfundenes festzuhalten. Hierbei kommen die Handlichkeit des kleineren Formates und die gebundene Form der Künstlerin entgegen. Susanne Kessler bezeichnet kleinformatige Einzelblätter zuweilen ebenfalls als Tagebuchblätter. Indien hat die Künstlerin mehrmals besucht, zuletzt in Form eines Arbeitsaufenthaltes, der die Wahmehmungserlebnisse und künstlerische Produktion intensiv belebt hat. Hier sind kleine tagebuchartige Blätter entstanden. Auch Michael Buthe führte bei seinen Reisen Buch. »Wer Tagebuch führt, sucht Eindrücke festzuhalten und Tägliches der Begrenzung durch Zeit und Raum zu entreißen. Im Gegensatz zu anderen Verfassern von Tagebüchern spricht Buthe allerdings nicht in erster Linie von sich selber. Seine Tagebuch-Bilder sind Aufzeichnungen sinnlicher Eindrücke…«(5) Eine Parallele zu Michael Buthes Tagebüchern bestätigt Susanne Kessler in einem geschriebenen Reisebericht: »Sie waren ja wie ein Tagebuch ganz nah bei mir und stellten den Stand meiner Empfindungen dar. Das tägliche Arbeiten an ihnen, sie zu Serien anwachsen zu lassen, läßt sie repräsentativ für den Aufenthalt (in Indien) werden.«6 Sie künden aber auch von anderem. Nach einer längeren Werkphase, in der Susanne Kessler alle Nuancen zwischen Schwarz und Weiß für sich ausgelotet hat, werden ihre Arbeiten in Indien wieder malerischer und farbiger. »Auch die Vielfarbigkeit des Landes ist in mein Herz gedrungen und vielleicht aus ihm hinaus in meine Bilder. Es kann sein, daß das am Ende das Bleibende aus meinen Erfahrungen in Indien sein wird.«7 So ist hier möglicherweise eine weitere Werkphase angelegt, in der die Malerei und die Farbe wieder mehr an Bedeutung gewinnen. Wieder ist etwas für Susanne Kesslers Bibliothek entstanden, in der das Gefundene und Wahrgenommene sicher verwahrt wird, bis zu einem Zeitpunkt, an dem die Künstlerin darauf zurückgreift und an der skizzierten Idee weiterarbeitet.
Text von Annette Theyhsen im Buch zur Ausstellung „Susanne Kessler_Bilder, Konstruktionen, Arbeiten auf Papier“, Stiftung Museum Schloss Moyland, Sammlung van der Grinten, 1999
1. Siegfried Salzmann, wie Anm. 1, S. 9.
2. Dominique Moldehn: Buchwerke. Künstlerbücher und Buchobjekte 1960-1994. Nürnberg 1993, S. 12.
3. Siegfried Salzmann, wie Anm. 1, S. 9.
4. Jürgen Glaessmer: Michael Buthe, Das Schönste ist, daß man überhaupt lebt. In: Kunstforum International, März 1988, S. 237.
5. Susanne Kessler: Reisebericht vom 1.5. 1996, S. 10, (unveröffentlicht).
6. Susanne Kessler, wie Anm. 6, S. 10.