»Das unendliche Band« – Werktitel und zugleich Titel dieser Ausstellung – ist ein sprachliches Bild, das auch das künstlerische Schaffen von Susanne Kessler insgesamt angemessen zu fassen vermag: Ruhig und stetig baut sie ihre Position aus, bestimmt diese mit Blick auf ihre Wurzeln neu, verliert dabei nicht den spielerischen, zärtlichen Umgang mit der Form, der vielen ihrer Arbeiten eine beinahe flüchtige Leichtigkeit verleiht.

Poetisch und von überbordender, vitaler Präsenz zugleich, erschließen sich diese Arbeiten jedem, der willens ist zu sehen. Ist es unzulässig, Qualität auch einmal an dieser Offenheit für den Betrachter festzumachen?

Das unendliche Band ist ein Fundstück der Künstlerin: eine etliche Meter lange Kette aus grauem Karton; drei zusammengehaltene Fäden von schmalen, gelochten Karten, die einst eine Webmaschine in Wuppertal steuerten, der >Textilstadt< und Heimat von Susanne Kessler. In diese Karten »webt« sie ihrerseits Papierstreifen und -fetzen ein. Dieser Überzug, der an geknotete Papierdrachenschwanze erinnert, gibt der Kette eine gänzlich andere, zugleich filigrane wie raumgreifende Struktur. Collageartig wird die flächige Form hier und dort um Elemente erweitert, die Flugeigenschaften zu verleihen scheinen: Die Kette hat sich in das unendliche Band verwandelt, das seinen dinglichen Zweck abgestreift hat und sich vom Boden zu erheben vermag. Die Raupe ist zum Schmetterling geworden; die Leuchtkraft der Farben, die Susanne Kessler auf das Papier aufbringt, unter- streicht diesen Vorgang nachdrücklich.

Die ursprüngliche Botschaft der Kette wird durch diese Ver­wandlung aber nicht vollständig negiert. An vielen Stellen lässt sie Blicke auf ein Lochmuster zu, das verwirrend und von suggestiver Logik zugleich ist: ein langer, chiffrierter Text, der von namenlosen Ereignissen und unbekannten Geschehnissen berichtet. Man ist versucht, wie beim Stein von Rosette, jenem Schlüsselobjekt zur Entzifferung der ägyptischen Schrift, zunächst Wiederholungen im Muster aufzuspüren, gewissermaßen die Kartuschen aufzufinden, die besonders gekennzeichneten Buchstabengruppen, die den Weg zum Verständnis einer ganzen Sprache lieferten.

Das unendliche Band weist hier ein Merkmal auf, dessen Spuren sich in den Arbeiten von Susanne Kessler bis in die frühen achtziger Jahre zurückverfolgen lassen. In ihren Malbüchern, dem »Gelben Buch«, dem »Blauen Buch«, dem »Buch der Liebe« hat sie einem vor- gefundenen Realitätsausschnitt – den Eintragungen in ein Kontobuch etwa oder dem alphabetischen Verzeichnis von Buchautoren – eine neue, starkfarbige Realität aufgelegt. Doch schimmern die Reste der ursprünglichen Botschaft durch ihre Neucodierung – sei es Übermalung oder eher plastische Gestaltungsweise – hindurch wie ein nachlässig getilgter Palimpsest. Und wenn das unendliche Band diesen Umgang mit den Dingen in noch größerer.

Dichte und Abstraktion – und zugleich stärkerer Durchlässigkeit und Transparenz – verkörpert, ist dies nur ein Beleg für eine konsequente künstlerische Entwicklung, deren Chronisten wir sein dürfen.

 

Text zum Katalog der Ausstellung „ Susanne Kessler – Das unendliche Band“ von Hans Joachim Schalles, Direktor des Regionalmuseum Xanten, 1992