Susanne Kessler hat im Formenkarussell eine ungewöhnliche künstlerische Lösung für eine Grundidee ihrer Malerei realisiert. Sie ent­deckte die Eignung des Karussells als Kon­struktion, um der Malerei Bewegung zu verlei­hen und die Bilder in den Raum zu tragen.

Das Eisengerüst dient ihr zur räumlichen Verspannung von doppelseitig bemalten Stoff­elementen, die in fließenden und dennoch kraftvollen, bewegungsgeladenen Formen aus­schwingen und dabei sphärische Volumen im Raum bilden. Somit hat die Malerei sich über die gewaltsame Beschränkung des Tafelbildes auf die rechteckige, flächige Bildform hinweg­gesetzt und sich freien Bewegungsraum ver­schafft. Gleichzeitig gewinnt die Form als Be­grenzung der Malfläche einen bisher nicht be­kannten Formwert.

Nunmehr stellt nämlich die begrenzende Kontur ein formendes Gestaltungselement der Malerei dar. Mit dem Vordringen der Bildform in den Raum deutet sich auch eine Neubestim­mung des Raums, eben als Bewegungsraum der Malerei, an.

Die eigentlich formbestimmende Kraft, die im Formenkarussell wirksam ist, ist jedoch die Farbe. Die Farbigkeit der Vor-und Rückseiten der Formteile ist aus dem Dualismus der Grund­farben Gelb und Blau entwickelt. Aus diesem Farbgegensatz entsteht eine Dynamik, welche die Schwingungskraft der Farbe belegt. Unter diesen Bedingungen offenbart sie ihren elementaren Bewegungsdrang. In der Malerei voll­ziehen sich Farbereignisse, die man mit energeti­schen Geschehnissen vergleichen könnte. Aus dem Zusammenprall der Farbkräfte ergeben sich Konfliktsteilen, die neue Spannungen provozie­ren. Die Bilder wachsen in einem Wechselspiel von organischen Bewegungszügen und eigen­willig konstruierten zeichnerischen Strukturen, die den großzügigen Bewegungsflüssen entge­genwirken.

Es mag sein, dass psychische Impulse und abstrahierte Natur – und Landschaftserlebnis­se auf die expressive Gestaltungsweise der Künstlerin Einfluss genommen haben. Entschei­dend für ihr Verhältnis zur Farbe ist jedoch, dass sie diese als eine reine, essentielle Qualität er­kannt hat.

Die Farbe ist Hauptthema und Hauptakteur ihrer Malerei. Die Form ergibt sich aus der Ah­nung des Bewegungsdrangs der Farbe. Sie kann konform mit der Bewegung der Farbe verlaufen, ihr jedoch auch Widerstand entgegensetzen, Brüche herbeiführen und Konfrontationen erzeu­gen. Somit ist sie ein wichtiger Mit – oder Gegen­spieler der Farbe.

Gewiss erfordert der freie Umgang mit der Farbe die Bereitschaft, dem Gefühl, dem In­stinkt zu vertrauen. Andererseits ist aber auch eine intensive Konzentration notwendig, um die Bilder aus den Strukturen der Farbe heraus aufzubauen.

Das Farbgeschehen, das sich in den For­men des Karussells vollzieht, ist bereits im Ur­sprung der Idee, in der Spannung des Farbkon­trasts zwischen Gelb und Blau, angelegt. Die Formen fangen die Bewegungen der Farben auf und richten ihre Kräfte in den Raum.

Eine Kulmination erreicht die Bewegung der Farben und Formen in der Rotationsbewe­gung des Karussells, die dem Auge eine Ge­samtaufnahme aller Bilder des Ensembles er­möglicht. Die Gleichmäßigkeit der Drehung bil­det den Takt, in dem die Farben und Formen ih­ren Klang und ihren Rhythmus entfalten.

Letztlich liegt die künstlerische Intention zum Formenkarussell in der Idee, eine dramati­sierende Abhandlung über das Wesen von Far­be und Form zu schaffen.

Der Betrachter kann sich der Wirkung kaum entziehen. Die wirbelnden Kräfte der Farbformen üben einen geradezu unwidersteh­lichen Sog aus. Man könnte das Gefühl für Zeit und Raum verlieren und in einen taumelnden Zustand geraten, in dem es möglich wäre, sich vorzustellen, zwischen den Formen zu schwe­ben und eine andere Welt zu durchreisen.

Die Wirkung des Formenkarussells hat den jungen, in Köln lebenden Komponisten Thomas Becker 1988 in Rom zu einer Tonbandmusik für Stimme und Klavier inspiriert. Seine Komposition “August Stramm trifft Arnold Schönberg in Rom” interpretiert musikalische Elemente von Arnold Schönberg und Fragmente eines dadaistischen Gedichts von August Stramm. Bereits vor eini­gen Jahren hat die Künstlerin einen gewissen Zusammenhang zwischen der Lautmalerei die­ser Dichtung und ihrer Malerei entdeckt.

Thomas Becker ging es um den Dialog der Musik mit der Malerei. Seine Musik bewirkt eine Wahrnehmungsweise, die das Erlebnis des Formenkarussells steigert und ein synästhetisches Gesamterlebnis auf mehreren Sinnesebenen gleichzeitig vermittelt.

 

Text von Dr. Antje Birthälmer zur Werkausstellung an drei Orten, Kunstverein Solingen, 1991