Susanne Kessler, Malerin aus Wuppertal, stellt im Oktober im Von der Heydt-Museum ihre neusten Arbeiten aus. Die aus diesem Anlas hier versuchte Vorstellung der Künstlerin legt Wert auf den Hinweis, dass sie wie jede Vorstellung “gemacht” ist und dass der Vorstellende, dieses Doppelsinns und seiner zweifelhaften Zuständigkeit eingedenk, ganz förmlich fragt:
Darf ich (überhaupt) vorstellen?
Vom Kalender reiße ich heute ein Blatt, dass den berühmten romantischen Landschaftsmaler Caspar David Friedrich von der Staffelei in seinem Atelier zeigt, dargestellt durch den Malerfreund Georg Friedrich Kersting. 37 Jahre ist Friedrich alt auf dem Bild; Er wirkt älter mit seinem buschigen rötlichen Backenbart, tritt klein und matt auf eine Stuhllehne gestützt hinter dem Werk in Arbeit zurück, nimmt nachdenklich Abstand. Die Leinwand, für den Betrachter nur von hinten dunkel sichtbar, die für den geeigneten Lichteinfall eigens konstruierte Fensterverkleidung, in deren Ausschnitt nur heller Dunst zu erkennen ist, und die Person des Künstlers bilden eines inniges, geschlossenes Dreieck. Das Atelier ist karr wie eine Klosterzelle; es herrscht eine Atmosphäre selbstgewählter Abgeschiedenheit und Kontemplation. So will es die romantische Inszenierung.
Fast zwei Jahrhunderte später stehe ich im Atelier von Susanne Kessler an der Kreuzstraße. Wie würde ich die Freundin malen, wenn ich den malen könnte? Zunächst gilt es, die immer schon mehr oder weniger unbewusst voreingenommene Perspektive zu klären. Es geht wohl nicht nur mir so;
im Durchschnitt wirkt die Romantik in der allgemeinen Vorstellung vom Künstlerdasein auch heute noch kräftig nach. Zwar ist nicht mehr von visionärer Abgeschiedenheit die Rede, doch nach wie vor suchen wir den Künstler außerhalb der bürgerlichen Welt, erwarten Schrulle und Provokation oder -noch krasser, aber fast schon wieder urromantisch ausgedrückt_ Genie am Wahnsinnsrand.
All diese Klischees kämen mir nicht ins Bild von Susanne Kessler;
auch wäre es nicht wie das von Kerstin so abgerundet und hingebogen auf ein Malerisches Ideal. Ich würde_müsste _viele Bilder malen und Anleihen machen von den Formen, die die Malerin selbst vorgibt: vielflächige, polygonale Leinwandkörper aus Stangen, Kleiderbügeln oder Leitern gebaut, Karussellkonstrukte geformte, freischwebende Passepartouts, Malbücher, Takelagen und Flügel oder _wie Bald im Museum zu sehen_ das Labyrinth, dem vielleicht zutreffendsten Rahmen zur Vorstellung einer Person. Auf die einzelnen großen wie kleinen Felder projizierte ich dann meine Eindrücke von ihr. Ich sehe sie in ihrer jugendstilprächtigen Fabrikhalle zwischen drei hellen Fensterwänden und Bergen von Material kulissengroße Staffeleien verschieben, auf Leitern turnen oder von der Nähmaschine sitzen, Malgründe nach freientworfenen, immer wieder neuen Schnittmustern schneidern; oder auf der Dachterrasse ihrer Wohnung in Rom, ringsum begrenzt von
hüfthoher Brüstung. Wie sehr ist doch hier die Aufteilung verschieden von drein Kerstins Gemälde : die Leinwand liegt, darauf kniet die Künstlerin, und von oben scheint die Sonne. Dieses Bild ist fotografisch Realistisch, rein zufällig und unbeabsichtigt wäre die Suggestion verborgener Sinnbezüge im Hinblick auf ein anderes Künstlerideal.
Ein Bild, das ich mir aufdrängt, stellt als Miniatur ihren kleinen Sohn Thomas dar, durchs Wuppertaler Atelier Krabbelnd, ebenda, wo er zur Welt kam.” In Gegenden, wo die Künste geblüht haben [und blühen], sind auch die schönsten Menschen geboren worden”, wusste schon der Klassiker Johann Joachim Winkelmann, der die Werke der Griechen bewunderte.
Zwischen Wuppertal und Rom pendelnd, steht Susanne Kessler mit langem Fahrzeuggespann, vollbepackt mit bemalten eingerollten Leinwänden, vor der Zollstation am Brenner. Titel dieses großformatigen Schickens: “Malerin am Grenzübergang, ihr Werk deklarierend“. Wir sehen hier einen genrehaften Ausschnitt aus dem Alltag der Künstlerin, der sich, wer hätte anders gedacht?, beileibe nicht in schöpferischer Tätigkeit erschöpft; sie muss auch ihre Arbeit präsentieren. Das Bild erzählt nichts Neues, ist aber besonders prägnant in seiner parabolischen Beispielhaftigkeit. Zwischen Atelier und Galerie ist ein Schlagbaum zu passieren, an dem sich die Geister scheiden, die Kunst begutachten. Noch unsichtbar und eingerollt, wird das Kunstwerk bereits taxiert; das ist das Wunder seines Warencharakters. Die Künstlerin steht vor der denkwürdigen Aufgabe, ihr Werk deklarieren, das heißt seinen Wert erklären zu müssen, um es überhaupt zur Ansicht bringen zu können. Vielleicht liegt es an diesem Zusammenhang, dass nicht mehr das Werk den Meister lobt, sondern der Meister seinem Werk Lob zollt, will er an der Grenze zur Öffentlichkeit durchgelassen werden.
Eine Skizze zum Schluss: Vom Kalender reiße ich morgen ein Blatt, das die angesehene Malerin Susanne Kessler zeigt, von einem Malerfreund auf welche Weise auch immer, in jedem Fall aber angemessen, also nicht durch Worte, sondern mit farbigen Pinselstichen und Bild gesetzt.

 

Text von Michael Windgassen zur Ausstellung „Susanne Kessler – Man müsste wieder Tempel bauen“, Von der Heydt Museum, 1994 , publiziert in der Zeitschrift Bergischen Blätter, 1994