Susanne Kessler gestaltet nicht Darstellungen, auch nicht Formen, sondern Verläufe. Im Raum bewegen sich Fäden, Schnüre, Kordeln, Metallstreifen, Drähte… Nichts, was man abgrenzen, de-finieren, be-greifen kann. Das Auge findet keine Gestalt, keinen Ruhepunkt. Es findet aber auch keinen durchlaufenden Bewegungsfluss, keine glatte Bahn, die den Blick leitet.
Die Linien bündeln sich, bilden Schwärme, überlagern, verdichten, überqueren sich, durchkreuzen sich zu Netzen. All diese Abweichungen bereichern den Vorgang des Sehens, erweitern ihn ins Unfassliche und Unermessliche. Folgt der Blick einem Verlauf, drängt sich eine andere Schnelligkeit, Dichte oder Farbe optisch nach vorne und lenkt die Aufmerksamkeit ab.
Ständig stellt sich der Verlauf unseres Sehens um. Genau diese Abweichungen, diese Veränderungen unseres Sehflusses laden die Wahrnehmung mit Energie auf. Die Abläufe stocken, weichen ab und nehmen neue Fahrt auf. Der Blick stößt auf Widerstände und überwindet sie. Materialien bremsen die linearen Abläufe. Stoffe, Fetzen, Metallstreifen machen sich als störrische Realität bemerkbar. Sie fügen sich nicht ein. Diese Linien erscheinen schon lange nicht mehr „ideal“, sondern greifbar und eigenwillig.
Wir Betrachtenden wirken selbst mit. Wir spüren die Verknotungen, vollziehen sie innerlich mit – und spüren dabei das Widerständige und Unvereinbare. Sperrig geraten diese Verläufe aneinander. So real sie sind, so unüberschaubar sind sie auch. Und so unaufhaltsam reichen sie über das Vorhandene hinaus ins Unerreichbare und Ferne, sogar ins Fantastische und Fremde. Alles ist in Bewegung. Dieses Weitertreibende hört nicht auf, wo die Materie zu Ende ist.
Was sich in den Werken von Susanne Kessler bewegt, ist keine Harmonie einer heilen Welt. Wir nehmen teil, wir stehen dem Werk nicht nur gegenüber. Die Bewegungen, denen unsere Augen folgen, vollziehen sich in unserem realen Raum.
Ein Werk von Susanne Kessler stellt nicht eine Einheit vor uns hin, nichts Fertiges. Ein schneller Blick reicht nicht – kein Eyecatcher, kein Überblick. Und doch wirkt alles zusammen und bildet letztlich so etwas wie eine Einheit. Man findet weder einzelne Teile noch ein einheitliches Ganzes. Selbst die einrahmenden Rechtecke und die geometrischen Pyramiden vervielfältigen sich zu rhythmischen Folgen. Man findet aber auch kein unzusammenhängendes Chaos. Eher vielleicht eine uneinheitliche Einheit – eine Einheit im Werden.
Die Wege und Aktivitäten, die Susanne Kessler unseren Augen anbietet, führen bei jedem ihrer Werke zu einem ganz speziellen Zusammenwirken. Man kann es als ein vielstimmiges Zusammen- und Gegeneinander-Agieren von Energien erfahren. Ein Cluster (Bündel, Schwarm, Ballung) von gespürten Erfahrungen. Man spürt sie, wenn man nicht nur draufschaut, sondern sich diesen Bewegungs-Vorgängen mit teilnehmenden Sehen nähert.
Text zum Katalog „Undatiert”, Kunstverein Lippstadt 2022