Susanne Kessler hat ihre Raum­installation „In Bilico“ – „In der Schwebe“ genannt. „In der Schwe­be“ hat zum einen die Bedeutung, dass etwas in der Luft frei schwebt, zum anderen bezeichnet es im Allgemeinen einen unsicheren Zustand, bei dem etwas noch un­entschieden ist, sich die Balance zwischen zwei Möglichkeiten hält. Der italienische Begriff beinhaltet dabei für die Künstlerin eben diese Bedeutung, enthält das Wort „bili­co“ doch die Vorsilbe „bi“ mit der Bedeutung von „zwei“. Denn der Titel bezeichnet gerade diesen Zwi­schenzustand und Übergang der Rauminstallation von Zeichnung zu Skulptur, von organischen Gebilden zu kalligrafischen Mustern. Und nicht zuletzt steht der Ausdruck „in der Schwebe“ wegen der Wupper­taler Schwebebahn mit der alten Heimatstadt der Künstlerin in besonders passender Relation. Von einem geerdeten Gewebehau­fen aus Gehirnstrukturen und orga­nischen Strängen scheint ein dicker Nervenstrang, aus Drahtseilen gebildet, wegzuströmen. Es bildet sich eine Kippsituation, die sich jedoch in der Schwebe hält, wieder hinab zum Boden führt und sich dort sammelt. Es ist die Vorstellung von Transmittersystemen, die über Leitern gehen und Informationen weiterleiten. Der Gewebehaufen mit seinen Gehirnstrukturen kon­stituiert ein Bild der Erinnerung, was sich anhäuft und dann plötzlich vorstößt. Daneben hängt ein im Kontrast dazu sehr luftiges Gebilde im Raum. Es scheint aus einem Gewirr aus Strömen, wenn man näher heran tritt, aus gezeichneten Gehirnstrukturen zu bestehen. Diese Zeichnungen des Gehirngespinstes präsentieren sich in ihrer reinsten Form: Denn es sind einzig die Linien, die sich hier miteinander verweben, ohne den negativen Raum des Papiers, der sich einst um sie befand. Von ihm sind sie gelöst und befreit, schließen sich hier zusammen und gehen von der Zweidimensionalität in die Dreidimensionalität über. Dazu sind die Zeichnungen auf Gitterrechtecke aufgebracht. So, wie in der klassischen Aktmalerei der Körper zunächst in Rechtecke unterteilt und schließlich durch Rundungen geformt wird und seine endgültige Gestalt erhält, genau so hat Susanne Kessler hier dieses Gebilde gestaltet: Die Zeichnungen über den Gittergerüsten bilden die endgültige Form, die Künstlerin zeichnet gewissermaßen in den Gebilde. Die Gitter – hier ohne Zeichnung ~ sind hier selbst die Zeichnung im Raum. Das auf­wachsende Gebilde erstreckt sich fast bis zur Decke. Oben läuft es in tropfenartige Bestandteile aus, der Betrachter verfolgt die Be­wegung, die wieder zum Boden zurück zu fuhren scheint. So ist alles im Fluss, bei allen Gebilden hat man das Gefühl, es könnte weiterwachsen und -wuchern, sich weiter ausbilden, als wäre es orga­nisches Gewebe aus dem Leben gegriffen. Wie das Leben wächst auch die Rauminstallation in ihrer Entstehung und suggeriert selbst nach ihrer Vollendung ein Wei­terwachsen. Zugleich ist sie aber ebenso vergänglich wie das Leben und einmalig in ihrem Aufbau. Die Zeichnungen, die organische Gewebe darstellen, sind selbst aus einem organischen Material: Pa­pier. Sie stellen eine Phantasie von Anatomie dar, von Nervenmaterial, Gehirnstrukturen, Organen von Meerestieren. Es ist in dieser Her­angehensweise eine seelische Phan­tasie, im Gegensatz zu einer wis­senschaftlichen Betrachtungsweise. Die Rauminstallation von Susanne Kessler beflügelt die Phantasie. Im Kabinett und am Eingang hängen durchsichtige Plexiglas-Boxen, die den Blick auf ihr Inneres freigeben. Sie beinhalten in ihrer Bewegung eingefrorene, dreidi­mensionale Zeichnungen, die an Organe oder Teile von Meerestie­ren erinnern. Es sind polymorphe Strukturen, die an Oktopus-Bestandteile denken lassen, hier und da mag man einen Fangarm aus­machen. Hinzu kommt ein beson­ders hoher Grad an Ornamentalität. Hier wirken die Zeichnungen wie ein Wandrelief, fest und starr, gar nicht mehr so fragil wie zum Beispiel die Netze unter der Decke. Die Plexiglas-Behälter mit ihrem Inhalt sind im Gegensatz zu der ge­samten Rauminstallation dauerhaft, sie werden weitergetragen. Für die Künstlerin ist es bei einer Installation wichtig, dass ver­schiedene Bereiche immer andere Strukturen enthalten, aus der Va­riation Abwechslung entsteht. Da­bei nehmen die Zeichnungen einen besonders bedeutsamen Stellenwert als ältere, wieder verwendete Ele­mente, ein. Indem sie enthüllt sind, also von ihrem Träger losgelöst, präsentieren sie sich skulptural. Die räumlich gewordenen Zeichnungen zeigen sich in der Rauminstallation vielschichtig: mal luftig-beweglich, dann wieder versteift-eingefroren, aber immer halten sie sich in der Schwebe – sowohl im Schwebezu­stand um uns herum, als auch in diesem Zwischenstand von Zwei- zu Dreidimensionalität, von Zeich­nung zu Skulptur, von organischem Gewebe zu Papier, Draht und Stoff.

 

Katalogtext von Nina Hartgenbusch, M.A. zur Ausstellung „Susanne Kessler – In Bilico, eine Dokumentation“, Artist in Residence 2009, Galerie Epikur Wuppertal