Susanne Kessler, der 1955 in Wuppertal geborenen, dort und in Rom lebenden Malerin, ist unlängst das Stipendium der »Paul-Strecker- Stiftung« Mainz für 1992 zuerkannt worden. Ein Preis, der alle zwei Jahre an einen jungen Künstler zu vergeben ist.

Bekannt geworden ist Susanne Kessler vor allem durch ihre in der zweiten Hälfte der 80er Jahre entstandenen, in die dritte Dimen­sion führenden Objekte: neben Rauminstallationen vor allem die beweglichen Konstruktionen, die Karussells, wie man sie genannt hat, in denen das, was ihr bislang als Ziel ihrer künstlerischen Bemü­hungen vorschwebte, am gültigsten – oder sollte man besser sagen sinnfälligsten (in des Wortes eigentlicher Bedeutung)? – zum Aus­druck gekommen ist. Es sind die bewegten, wechselnden »Bilder«, das heißt die vieldeutigen Formen- und Farbenkombinationen oder -konstellationen, die geheimnisvoll heran- und vorbeischweben, betörend schön zum Teil, aber auch wieder mit dramatischen Partien und mit geradezu apokalyptischer Stimmung, so dass man von einer Art »abstraktem Welttheater« sprechen konnte.

Zu den drei Karussells – dem Farbkarussell 1987, dem For­menkarussell 1988 und schließlich dem Linienkarussell 1989 – »Mobiles« sozusagen mit den in ihnen enthaltenen Möglichkeiten von Bewegung, kam dann 1989 noch etwas sehr Gegensätzliches, ein »Stabile« »Zelt«. Diesem eindrucksvollen Objekt sollten, so schien es zunächst, weitere folgen. Die Künstlerin berichtete bald von einem projektierten »Theater der Formen«, was immer man darunter zu ver­stehen hat. Auch anlässlich ihrer ersten Ausstellung in Rom hatte Susanne Kessler zunächst an etwas Raumgreifendes, ein genau in den Ausstellungsraum hineinpassendes Objekt gedacht. Doch sie bekannte: »Es ging gar nicht. Die Vorstellung zu schweißen, zu nähen, zu bauen war mir diesmal wirklich abstoßend.« Statt dessen hat die Künstlerin einfach zu Pinsel und Farbe gegriffen und große Lein­wände mit Acrylfarben bedeckt – geschehen auf den Dächern von Rom; und ihr Kommentar dazu: »Das Bildermalen ist so direkt und befreiend, weil begrenzt und übersichtlich, auch wenn das wider­sprüchlich erscheint.« Es ist, wieder einmal, das ganz spontane Malen, das Arbeiten auf großen, zusammenhängenden Flächen, das die Künstlerin gereizt hat. Diese großformatigen Leinwände des 1990 entstandenen Zyklus, seien sie als Triptychen gedacht oder als Einzel­bilder, sie bilden jedenfalls ein fortlaufendes Ganzes. Dass diese Bil­der, im Rückblick gesehen, eine, vielleicht ganz notwendige, Etappe des Schaffens dokumentieren, wird durch den starken, nicht zu über­sehenden Rückbezug der Folge auf die Malbücher deutlich, deren einst selbstgeschaffenes Farben- und Formeninventar von Susanne Kessler wohl bis heute nicht voll ausgeschöpft ist. In ähnlicher Weise wie dort »strömt« es, bilden sich, eingebettet und getragen von viel­deutigem Blau, immer wieder Kulminationspunkte, die Einheit for­dern, das Strömen unterbrechen. »Es entstehen unterschiedliche räumliche Gefüge, Schichtungen, Brüche im Bewegungsfluss, wie geologische Verwerfungen oder Verteilungen und Verdichtungen« (M. Ebersold).

Für Susanne Kessler ist das Primäre das Malen oder malerische Gestalten, selbst wenn sie gelegentlich mit ihren Objekten ins Dreidi­mensionale geht, bemüht gleichsam, neue »Rahmenbedingungen«, »Rahmenformen« für ihre Malerei zu finden.

Es scheint irgendwie bezeichnend für die heutige Situation der Malerei, dass neben solchen »bloß gemalten« Bildern zugleich mittels zufällig gefundener Materialien experimentiert wird. Zunächst sind zwei Arbeiten hier zu erwähnen: ein größeres und ein kleineres Objekt, zusammengefügt aus einem Arsenal verschiedenster Schie­nen, Röhren und U-förmig gebogener Teile bis hin zu einer großen Zahl chirurgischer Scheren; Zivilisationsreste oder -Überschüsse, die die Künstlerin »zufällig« gefunden und auf Vorrat im Atelier gesam­melt hatte. Die Objekte leben ganz aus der nur wie vorläufigen, gänz­lich improvisierten Art und Weise, wie die Teile miteinander verbun­den sind. Bei dem größeren, bis zu 3 Meter aufragenden Objekt wird die ebenso labil arrangierte wie komplizierte Konstruktion nur durch Sandsäcke, die das Ganze beschweren, gehalten: die Stützen heben ab vom Boden und werden in der Höhe durch horizontale Elemente miteinander verbunden. Ein fast waagerecht liegendes Speichenrad ist als ein »Scheren-Mobile« ausgebildet. Das Gestänge ist hier keine Hilfskonstruktion mehr, der wie bei den Karussells das Eigentliche, die bemalten Teile »übergestülpt« sind, es bestimmt vielmehr, wie das schon beim »Zelt« der Fall war, das Ganze, ist aber im Gegensatz zu

dort offen belassen. Angesichts derartiger Struktur der Gebilde sind es weniger die Massen als solche, vielmehr die Zwischenräume der ein­zelnen Elemente, die durch kleinere und größere, farbig gemachte Stoff-Formen definiert, spärlich definiert werden. Das gilt auch für das kleinere Objekt, das an einer festen Stütze angehängt ist und ins­gesamt Mobilecharakter hat.

Einem weiteren Objekt, von der Künstlerin »zerbrochenes Schiff« genannt, 1991, liegen ein zersägter Lehnstuhl und eine alte Antenne (vom römischen Dach) als hauptsächliche Fundstücke der Konstruktion zugrunde; daneben wurden Aluminiumstäbe und reich­lich Stoff verwendet, der die konstruktiven Teile größtenteils ver­deckt. Durchaus barocke Bewegung wird sichtbar in den zu schalen­förmigen Gebilden sich bauschenden Stoffstücken, man beachte auch die bizarre Form eines geblähten Segels, während der Rumpf schon in zwei Teile auseinandergebrochen ist. Das Ganze hat etwas Improvi­siertes, auch schon dadurch, dass mit wenigen Strichen und Spritzern einer schwarzbrauen Asphaltfarbe (von ihr ist Susanne Kessler zur Zeit ganz fasziniert) Akzente gesetzt werden. Im übrigen ist alles roh belassen; es ist eine »Farbigkeit«, wie sie nur die Graphik kennt… Das gescheiterte Schiff eine Metapher auch für die ständige Gefähr­dung künstlerischer Existenz.

Auch in einem weiteren dreiteiligen Objekt, Leitern, die 4 Meter bis zur Decke hochragen und mit Tüchern umwickelt und abstrakt bemalt sind, könnte man von der gleichen »reduzierten« Farbigkeit sprechen. Entgegen einer sonstigen Abneigung gegen Bildtitel möchte die Künstlerin dieses Gebilde »Golgatha« nennen. Eine ganz überzeu­gende Sicht, sieht man einmal ab von der natürlich immer gegebenen Möglichkeit, einen abstrakten Tatbestand so und zugleich anders zu interpretieren.

Innerhalb des jetzt zu Ende gehenden, so produktiven Jahres 1991 ist, last not least, ein lockerer Zyklus großformatiger Arbeiten entstanden, Arbeiten, die zwischen farbiger Zeichnung, Collage und Bild (Öl- oder Acrylbild im herkömmlichen Sinne) stehen. Die künstle­rischen Mittel aller drei Gattungen sind so miteinander verbunden, wodurch der Künstlerin eine unerhörte Spannbreite von Nuancen, besonders im graphischen Bereich, zu Gebote steht. Die kräftiger farbenen Bildpartien – in Rotbraun bis Braun, Blau und Gelb – rühren von eingefügten Collageteilen her. Die Künstlerin kommentiert: »Die neuen Bilder haben meinen Malfluss des letzten Jahres begrenzt. Unbemalte Flächen und Zeichnung verbinden einige wenige Malmo­mente (gemeint sind gemalte Partien) miteinander.« In den Collage- Partien allein ständen die farbigen Stellen in Bezug zueinander, und es sei »die Zeichnung wie eine Röntgenaufnahme eines Bildes«, genauer, es sei so, »als ob einige Stellen vom Bild noch erscheinen und dann die innere Verbindung, das Gerüst des Bildes an die Oberfläche« stoße. In diesen Bildern, die auch von der Künstlerin als das Beste, was sie seit langem geschaffen habe, angesehen werden, wird die alte Thematik, die in den Malbüchern und den frühen großformatigen Londoner Bildern wie »Weißes Fließen«, 1983, erstmals angeklun­gen war, wiederaufgegriffen und auf souveräne Weise neu inter­pretiert.

Auf einem ganz besonderen Fund, einer echten Trouvaille (wie sie im Leben eines Künstlers wahrscheinlich nicht so oft vorkommt) basiert eine jüngste Arbeit von Susanne Kessler. Es handelt sich um ein ca. 42 cm breites und 40 Meter langes Band, bestehend aus einer Abfolge fester Lochkarten (für die Programmierung von Wirkwaren- Produktion), die untereinander jeweils mit mehreren durchgehenden Kettfäden verbunden sind. Die Lochung der Karten mit ihrer Abfolge waagerechter Streifen und sonstiger Zeichen ist von hohem ästheti­schem Reiz sowohl was die einzelne Karte betrifft als auch durch die rhythmische Wiederholung immer der gleichen (oder ähnlichen) Lochungen in bezug auf das Ganze. Sofern die Arbeit richtig gehängt ist: von der Decke eines hohen Raumes, hintereinander gestaffelt, und zwar parallel zu einem Fenster, ist eine gewisse optische Transpa­renz gewährleistet. Die Künstlerin hat in diesen vorgefundenen, mehr zufälligen Bestand eingegriffen und durch sehr behutsames Zufügen von kleinen, farbig gemachten Papierfetzen usw. die mehr horizontale Ordnung der Löcher durch eine wenngleich nur ange­deutete vertikale Ordnung ersetzt. Sie hat also versucht, sozusagen neue »Leitwege« für das Auge zu fixieren. »Im Moment ist meine künstlerische Arbeit ganz auf aktives und konstruktives Denken aus­gerichtet«, betonte Susanne Kessler unlängst. In der genannten, als Erfindung und in der Ausführung gleich beeindruckenden Arbeit hat sie eine geradezu klassische Einfachheit und Selbstverständlichkeit erreicht, die als ganz neue Basis zu Weiterem dienen könnte. Es zählt zu den geheimnisvollen und zugleich erstaunlichen Phänomenen in der Kunst, dass die eigene Aussage eines Künstlers oft nur erreicht wird durch eine sich selbst auferlegte Beschränkung auf eine bestimmte schwierige Technik bzw. ein schwer zu handhabendes Material, weil – merkwürdig genug, aber oft feststellbar – offen­sichtlich erst die Auseinandersetzung mit derartigen Schwierigkeiten den Künstler produktiv macht.

 

Text von Dr. Wolfgang Venzmer zum Katalog der Ausstellung „Susanne Kessler – Das unendliche Band“ Regionalmuseum Xanten, 1992