Grundlage und Ausgangspunkt für den »Fliegenden Tempel« von Susanne Kessler bildet die antike Tempelanlage von Poseidonia (Paestum), gegründet um 600 v.Chr. von einer älteren griechischen Kolonie archäischen Ursprungs, Sybaris am Ionischen Golf.

Die Stadt im Golf von Salerno entwickelte sich im 6. und 5. Jh.v.Chr. zu großer Blüte während der Magna Graecia im heutigen Italien.

Sie entstand in einem Landstrich, der durch Landgewinnung und Entwässerung den Sümpfen abgerungen wurde. Zur Anlage gehört ein dorischer Tempel, der der Göttin Athene geweiht ist.

Athene, aus dem Haupt des Zeus entsprungen, ist Schutzherrin der Helden, der Städte, der Wissenschaft und der Künste. Beschrieben wird sie als Strategin gegen Gefahren, als Göttin des Krieges, die eher Vergnügen am Schlichten findet, die aber, wenn man sie zum Kampf zwingt, immer Siegerin bleibt. Vor allem ist sie den Künsten der Frauen zugewandt: Kochen, Weben und Spinnen.

Susanne Kessler zeichnet den Grundriss dieses Tempels an der Dithmarscher Küste in Form einer Installation nach – im Originalformat 32,50 x 14,30 Meter, aber mit Seilen, Draht, Pfählen und Aluminiumgestänge. Die Seile führt sie in Anlehnung an die Göttin Athene wie eine Weberin zu einem Ganzen.

»Ein Tempel soll fliegen durch Raum und Zeit, etwa 2500 km und 2500 Jahre zurücklegen, neu entstehen in seinen Grundfesten, verjüngt und von Masse befreit, ausgestreckt über den Boden in Form einer Flächeninstallation«, schreibt Susanne Kessler in ihrer Projektskizze. Die Maße und Proportionen werden aus uralter

Landschaft entliehen und versetzt in die junge Landschaft, die vollständig erst 1978 dem Meer entrissen wurde, als sich die Deichlinie vor der Meldorfer Bucht schloss. Es entstehen neue Bezüge, die Parallelen bei der Landgewinnungs- und Meeres­problematik sind frappierend: Wie die Stadt am Golf von Salerno wurde auch dieser Ort dem Meer entrissen. Der sakrale Ort aus einer anderen Zeit tritt in Dialog mit den alten Kultstätten auf der nahen Geest.

In ihrer Projektbeschreibung verweist Susanne Kessler auf ihre Ausstellung »Man müsste wieder Tempel bauen« im Von der Heydt- Museum, Wuppertal, im Jahr 1994. Aus dieser Zeit stammt der Wunsch, einen sakralen Ort aus der Fremde zu entlehnen und in eine neue Landschaft mit neuen Bezügen zu verpflanzen. Und so funktioniert der »Fliegende Tempel« an seinem Standort in Warwerort als Basis für neues Gedankengut, indem er zeitbegrenzt klassisches mediterranes Denken mittels reduzierten Architekturzitats anbietet: Der Besucher ist aufgefordert das »Luftgebäude« zu erwandern und gedanklich zu füllen. Geschichte wird zum Event, über Zeit und Raum überraschend neu erfahrbar.

 

Buchtext Kunst Landschaft 06, Projekt der Stadtgalerie im Elbeforum, Brunsbüttel, 2005-06