Bücher sollte man lesen; man sollte sie buchstabieren, von Buchstabe zu Buchstabe bis hin zu Wort und Satz. Was Wort und Satz verbindet, ist der Sinn. Um ihn zu verstehen, bedarf es zwar der Buchstaben, die man bereits in der Schule lernt; doch sie allein genügen nicht.
Das Buch von Susanne Kessler ist zwar ein Buch; es besteht aber (trotz eines fast unleserlichen Vorworts) nicht aus Buchstaben. Wenngleich kein Buch zum Lesen, ist dieser Mangel vielleicht sogar sein Vorteil; denn Susanne Kessler berichtet nicht in Wort und Satz von Sinn und Vernunft, sondern in Farben und Linien von der „Rhythmischen Liebe“, die bekanntlich für Vernunft und Sinn weder geschaffen noch geeignet ist.
Susanne Kesslers umfangreicher Foliant langweilt also nicht mit Kurzgeschichten und verärgert nicht mit Manifesten, sondern vergegenwärtigt in voller Breite und in einer fast unbegrenzten Vielfalt menschliche Regungen, die (in rastloser Bewegung) weniger zu verstehen oder zu bewundern als nachzuerleben sind. Da ich ihrem atemberaubenden Gestaltenwandel von Seite zu Seite wie der vibrierenden Dichte ihrer Farben nicht gewachsen bin, halte ich mich an ein Motiv von fast zeichnerischer Offenheit. Allerdings (und das erhöht seinen Reiz) besteht es im Grunde aus zwei Seiten, zwei spröden, aber durchlässigen Pergaminen, die, übereinander gelegt, einander wechselseitig, als wären sie ein und dasselbe, ergänzen. Man könnte also (es sind schließlich zwei Seiten eines Buches) von einer Vorder- und einer Rückseite sprechen.
Zwei dunkel-schwarze Inseln, diagonal von rechts oben nach links unten einander gegenüber schwebend, belasten zwar die innere Ordnung des Blattes; doch ein schwarzer Streif von links oben nach rechts unten, in freiem Abstand von schwarzen Tropfen begleitet, distanziert die Inseln gegeneinander und lockert oder erhöht, wie beiläufig, ihre innere Spannung. Sie sind überhaupt, gegen das Licht gehalten, keineswegs von pechrabenschwarzer Schwärze, sondern wirken durch behutsame Farbparallelen wie gewachsene Maserungen alter Holzscheiben und überraschen durch die lichte Konsistenz des Pergamins.
Dass es letzten Endes sorglos, heiter und fast tänzerisch zugeht, dafür sorgen die hellgelbe Tönung des Vor- oder Überblatts und seine spielerischen Bleistiftfigurationen unter transparentem Deckweiß. Fast flüchtig akzentuiert, auch hier, auch sie in diagonaler Zuordnung, zwei Verdichtungen, jedoch leicht und schwebend, als wären sie die Spur von etwas, das man nicht sieht, Spuren eines Nichts, von dem man nichts weiß.
Katalogtext von Dr. Heinrich Hahne zur Ausstellung „Botschaft Bild“ im Kreuzgang der Düsseldorfer Maximiliankirche, organisiert von der deutschen Gesellschaft für christliche Kunst, München