Die Lebensbibliothek von Susanne Kessler
Abb. S.193-194, S.195-196, S.197-198, S.199-200
In den ersten Büchern der „Lebensbibliothek“ werden Ideen skizziert, die den Rahmen zweidimensionaler Bilder sprengen. In dem „Buch der Liebe“ sind bereits in eine oder mehrere Seiten Öffnungen geschnitten, Vorboten der im späteren Werk typischen ausgeschnittenen Formen und geschichteten Collagen. Zudem wird experimentiert, wie sich durch das Umblättern der teiltransparenten Buchseiten Bilder bewegen und verwandeln.
Das Skizzen- und Ideenbuch „Schwebende Formen“ enthält erste Ideen zum Thema „Flugobjekte” – dieses Thema wird später im „Ideenbuch für Luftschiffkonstruktionen” (Buch 19) wieder aufgegriffen.
Das gelbgrundige Buch „Und wieder habe ich etwas unter der Sonne beobachtet“ entlehnt seinen Titel aus der Bibel Koh 4,7.
Das blaue und das gelbe Buch „gehören zusammen wie eben Tag und Nacht, Sonne und Mond, Freude und Angst.”
Michael Marschall von Bieberstein, Direktor des Goethe- Instituts Rom,1990)
Beide Bücher, das Gelbe und Blaue, haben noch im gleichen Jahr zu den zwei sich von der Wand lösenden, schwebenden blau- und gelbgrundigen Leinwänden, dem Flügelpaar, geführt.
In den 14 Büchern 5 bis 18 (insgesamt 712 Seiten) eliminiert Susanne Kessler die Farben und malt nur schwarz-weiß. Die unterschiedlichen Formate der Bücher bestimmen die Kompositionen. Die gesamte Serie ist ausschließlich auf von handausgefüllten Kontorbüchern der 1930-40er Jahre gemalt. Die gelblichen Tönungen des Papiers stehen im Kontrast mit den kälteren grauen Übermalungen. In ihnen entwickeln sich einige der schönsten Motive und Serien der frühen Malerei der Künstlerin.
Das Buch besteht aus einem tief in ein altes Kontorbuch eingeschnittenen Relief. Es ist ein Blick in eine räumliche Situation mit Kreuz- und Querverstrebungen.
Dieses Buch konzipierte Kessler für einen bestimmten Raum, den achteckigen Pavillon der Galerie Brusten in Wuppertal, in den sie 1988 auch ihr erstes drehendes Karussell hinein baute. Vier in die Buchseiten hinein geschnitzte Oktogone bauen sich beim Umblättern der ausgeschnittenen, bemalten und mit Fotofragmenten collagierten Seiten zu einem Oktogon auf. Diese besteht aus Fotofragmenten ihrer Londoner schwarz-weiß Fotoserie – es war eine Zeit in der sie ihre Fotos selbst entwickelte. Kaleidoskopartig überlagern sich die geschnittenen Formen, Fotos und Überzeichnungen. Dieses Buch war ursprünglich ein leerer Buchblock eines Verlags.
Auch einschneidende Lebenserfahrungen und dadurch geprägte Seh- und Wahrnehmungserlebnisse werden von den Malbüchern dokumentiert. So etwa in Tommasos Büchern von 1993, die die Künstlerin während ihrer Schwangerschaft, Geburt und den ersten Lebenstagen ihres Sohnes gemalt hat.
Das zweite Buch der Trilogie enthält Reminiszenzen an die Orte, wo sie auf zahlreichen Reisen viele Schwangerschaftsmonate verbrachte. Mit geschärfter Sensibilität und Aufnahmebereitschaft nahm sie Rom, Sizilien, Venedig, New York und Wuppertal wahr.
Alle drei Bücher haben Tagebuchcharakter.
In den Büchern 26-32 wird die Asphaltfarbe durch darüber gelegte Leinwand, Nesseltücher, Plastikfolien, Transparentpapiere überdeckt, wodurch die Seiten zu einer von hinten durchscheinenden eher entrückten, fast verdeckten Malerei und Zeichensprache werden. Die Hängeregister – sie zählt die Künstlerin auch zu den Büchern, da sie sich blättern lassen – hingen 1994 im „Labyrinth“, einer ortsspezifischen Installation für das Von-der-Heydt-Museum. In diesen Büchern entwickelt Susanne Kessler eine Technik, mit der Zeichnungen auch im Außenraum bestehen können.
(Zur gleichen Zeit entstanden die wehenden Zeichnungen auf einem Bunker in Dänemark und Außenrauminstallationen mit Zeichnungen auf Netzen in New Delhi und Chennai, Indien.)
Dieses Buch nimmt wieder alte zeichnerische und malerische Spuren auf und führt zurück in eine Intimität des Buches. Fast alle Mal- und Zeichentechniken finden erneut Anwendung.
Die beiden gefalteten Bücher 34 und 35 bilden eine kleine italienische Reihe. Bei Buch 34 ist der ursprüngliche italienischen Titel „discorsi parlamentari“ beibehalten, nur Teile der politischen Texte sind übermalt. „Roma“ verdeutlicht die Überfülle der Eindrücke in der Stadt. Beim Durchblättern wird erfahrbar, wie immer neue Sichtweisen sich aus den alten gebären, wie unergründbar diese Stadt ist.
Die Seiten sind geklebt, manchmal auch gerissen, mitunter plastisch gestaltet durch Faltungen, mit Tusche, Wachskreiden und Wasserfarben bemalt.
Das Buch, das während eines Arbeits-Aufenthaltes in Teheran entstanden ist und auch als Vorlage für das gedruckte Buch Persian Diary diente, ist auf Klarheit und Ordnung fokussiert. Es integriert kalligraphische muslimische Elemente in die künstlerische Sprache von Susanne Kessler, auch werden Schriften des Zoroastrismus in die Bilder hinein collagiert, die hinweisen auf einen kosmischen Dualismus von Gut und Böse.
Was im „Persian Diary“ begonnen, setzt sich als rein kalligraphische Ausdrucksform im Buch „Okzident Orient“ fort. Schriftzeichen aus der arabischen Kalligraphie mischen und tanzen gemeinsam mit den Linien der Künstlerin.
„Während ihres dritten Artist in Residence Aufenthalts auf der Insel Föhr trug Kessler handschriftlich mit Tusche und Feder von ihr ausgewählte Textpassagen aus Homers Odyssee in ein altes, unbeschriebenes Kontorbuch ein. Die Zitate korrespondieren mit Zeichnungen und Collagen, in denen die Irrlinie der Odyssee des Kapitän Jürgens von Föhr immer wieder abstrahiert aufgegriffen, verdichtet und gleich einer musikalischen Fuge komponiert wird.“
Aus dem Katalogtext der Ausstellung ‚Odissea‘ von Ulrike Wolff Thomsen, Museum Kunst der Westküste 2018
Die Texte und Bearbeitung der Abbildungen dieses Kataloges sind dem Werkverzeichnis und dem Online Archiv „Susanne Kessler- Künstlerin Rom / Berlin“ entnommen. Bearbeitet von Aline Poensgen, Jan Henselder, Tommaso Cornelis Rosati. Fotos Susanne Kessler, Foto der Mappen Lukas Spoerl Berlin